Albert Schweitzer – Seminar #24

Der Urwalddoktor als Richter und Schlichter

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Das Albert-Schweitzer-Spital in Lambarene war ja eigentlich ein Hospitaldorf. Albert Schweitzer wollte das so, damit sich die afrikanischen Patienten dort heimisch fühlen konnten und es so haben wie zuhause: Die Kranken konnten ihre Angehörigen mit ins Hospital bringen und auf einfachen Feuerstellen ihr Essen zubereiten, wie sie von ihrem Stamm gewohnt waren. Die Häuser des Hospitals waren nicht sehr hoch, sondern so flach wie ihre Hütten in Urwaldsiedlungen.

Aber für Albert Schweitzer und seine Helfer war das alles nicht so einfach. Die vielen Leute, die mit den Kranken ankamen, wollten auch essen, trinken und schlafen. Das alles zu regeln, erforderte viel Mühe und Verständnis. Am Anfang half dem Doktor vor allem seine Frau Helene. Später kamen noch der Gehilfe Joseph und die treue und tüchtige Gehilfin Emma Haußknecht hinzu, die ihr ja schon kennen gelernt habt. Aber auch viele andere tüchtige Frauen und Männer kamen aus Europa und Amerika nach Lambarene, um Albert Schweitzer als Ärzte oder Krankenschwestern zu helfen.

Die gesunden Familienangehörigen, die mit den Kranken ins Hospital kamen, mussten natürlich auch helfen. Sie konnten nicht etwa nur so herumsitzen und warten, bis man sie bediente, wie es mit den Kranken geschah. Sie halfen auch gerne und waren dabei immer fröhlich. Die Frauen wuschen und nähten die Wäsche, hielten die Räume und Wege sauber, halfen den Ärzten und Pflegern bei der Betreuung der Patienten und pflegten das Obst und Gemüse im Garten. Die Männer führten die schwereren Arbeiten durch. Wie wir schon gehört haben, fällten und zersägten sie Bäume im Wald, um Bauholz zu gewinnen. Sie rodeten auch kleine Waldflächen, damit wieder ein neuer Garten angelegt werden konnte. Dort pflanzten sie dann Papaya, Maniok. Tomaten, Bananen und viele andere Früchte. Auch fuhren einige Männer täglich mit ihren Booten den Fluss Ogowe hinauf und hinunter, um Fische zu fangen.

Eines Tages kam es unter diesen Männern zum Streit. Sie sprachen laut aufeinander ein, aber sie schlugen sich nicht. Dennoch nahm der Streit kein Ende. Man rief deshalb den Doktor und bat ihn, den Streit zu beenden. Albert Schweitzer kam hinunter zum Fluss und fragte: „Warum schreit ihr euch so an? Ihr seid doch vernünftige Menschen und könnt ruhig miteinander sprechen! Habt ihr mich schon einmal so schreien gehört?“ Da wurden die Streithähne ganz still und verlegen. „Warum zankt ihr euch überhaupt?“, fragte der Doktor einen der Männer. „Er hat heute Nacht mein Boot genommen und ist zum Fischen gefahren!“, antwortete der eine der beiden Streiter und zeigte auf einen anderen Mann, der noch in dessen Boot stand. „Das Boot war ja gar nicht angeschlossen“, rief dieser, „deshalb habe ich es eben genommen!“ Dabei schaute er auf den Boden des Kahns, auf dem viele dicke Fische lagen, die er im Verlaufe der Nacht gefangen hatte. „Diese Fische gehören mir, denn du hast sie mit meinem Boot gefangen!“, rief der Bootsbesitzer böse. „Nein, sie gehören mir, denn ich habe sie ja gefangen und nicht du!“, entgegnete der Fischer. Nun forderte der Bootsbesitzer Geld vom Fischer für die Benutzung des Bootes. „Warum hast du das Boot nicht angeschlossen? Du bist selber schuld!“, antwortete der andere. So ging das hin und her. Schließlich war der Doktor am Ende seiner Geduld. Er hatte ja noch mehr zu tun, als sich ewig diesen Streit anzuhören. „Schluss mit dem Zank!“, sagte er. „Ihr beide habt Schuld auf euch geladen! Keiner von euch ist ein Engel! Aber jeder von euch hat auch Recht! Also zeigt nicht immer mit dem Finger auf den anderen, sondern schaut euch mal selbst in den Spiegel und denkt darüber nach.“ Da wunderten sich alle, denn so etwas hatten sie bei ihrem Urwaldrecht noch nicht erlebt, dass man Unrecht und Recht zugleich haben kann.

Albert Schweitzer erklärte es ihnen. Alle hörten aufmerksam zu. „Im Recht bist du“, sagte Albert zum Bootsbesitzer, „weil der Fischer dich hätte um Erlaubnis bitten müssen, den Kahn zu benutzen. Im Unrecht bist du aber, weil du dein Boot nicht angeschlossen hattest, wie es sich gehört! Dadurch hast du deinen Kameraden in Versuchung geführt. Außerdem warst du zu faul, in der vergangenen Nacht selbst zum Fischen hinaus zu fahren, obwohl der Mond so hell schien und die Fische leicht zu fangen waren. Lieber hast du geschlafen!“ Der Bootsbesitzer schämte sich nun doch ein bisschen. „Aber du“, wandte sich der Doktor nun dem Fischer zu, „der du das Boot genommen hast, bist schuldig, weil du deinen Kameraden nicht um Erlaubnis gefragt hast, das Boot zu benutzen! Im Recht bist du, weil du nicht so faul warst und die Mondscheinnacht nicht ungenutzt vorübergehen lassen wolltest. Dabei hast du so viele schöne Fische gefangen.“

„Deshalb sage ich euch“, fuhr Albert Schweitzer nach einer kurzen Denkpause fort, „wie wir das Problem friedlich und gerecht lösen werden: Einen Teil der Fische erhält der Mann, der sie gefangen hat. Einen zweiten Teil bekommt der andere Mann, dem das Boot gehört. Und den dritten Teil tragen wir in die Hospitalküche, die davon für alle eine schöne Suppe kocht. Nun geht in Frieden auseinander und vertragt euch wieder. Haltet euch aber in Zukunft immer an Recht und Ordnung!“

Damit wandte sich der Doktor um und ging wieder zu seinen Kranken ins Hospital. Die Leute am Fluss sagten ganz leise: „Er hat recht, der Grand Docteur!“ Sie teilten die Fische auf und vertrugen sich fortan.

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5 thoughts on “Albert Schweitzer – Seminar #24

  1. Sehr viel verlangt.
    Aber ohne eine solche Suche kann es nicht klappen:
    Was sind meine Anteile am Ganzen!
    You have to sense it.

    Im Grunde ist es doch so, daß die Interaktion zwischen den Menschen so komplex ist, daß man bestenfalls nur raten kann, was gerade passiert ist und woher die Schwierigkeiten im Verkehr kamen.
    Auch jetzt wieder wird mich meine Frau gleich schelten, wieso ich wieder solange am PC schreibe. Und ich vermute zu wissen, was zu ihrem Groll führte.

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    • Meine liebe Frau war am Anfang (1980) immer verärgert, wenn ich zu viel Zeit am Computer zubrachte. Ja, sie war geradezu eifersüchtig. Doch das hat sich alles geändert, als sie vor ein paar Jahre ihre Passion der Fotographie entdeckte und bei Flickr ihre Bilder zur Schau stellen konnte. Nun has sie völliges Verständnis für meine Schwäche. Haha!

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