Kapitel I
Die Römische Delegation
Die spät sommerliche Sonne des Jahres 150 erwärmte noch immer die Glieder der römischen Seeleute. Es war Abend geworden, und der Golf von Karthago schimmerte blutrot im Licht der langsam versinkenden Sonne. Im Südwesten erkannte man jetzt deutlicher die Höhen und Felsenklippen der Halbinsel. Die Kommission, die vom römischen Segler angestrengt zur Küste blickte, war froh, noch vor Einbruch der Nacht, ihr Ziel erreicht zu haben, und hatte sich auf Deck versammelt, um sich den Empfang im Außenhafen durch die Abgeordneten der Stadt nicht entgehen zu lassen. Das Schiff hatte die Steilküste erreicht und bog nun scharf nach Süden ab an nackten, hohen Felswänden vorbei, die ihre schwarzen Schatten weit über das Schiff hinaus ins Meer warfen. Ein Schauder der Erfurt bemächtigte sich der Kommission bei dem Gedanken, dass sich hinter diesem natürlichen Festungswerk die alte, wohlhabende Stadt der Phönizier verberge. Die steilen Berghänge bogen nun sanfter nach Westen ab und bald wurde die Sicht frei auf den prächtig angelegten Handelshafen, der sich vor die mächtige Stadtmauer schob. Auf beiden Kais drängten sich die Massen in einem farbenfrohen Gemisch von Kleidern und Röcken. Einen solchen Empfang hatten die Römer nicht erwartet und sahen nun staunend auf die zusammengedrängten Männer, Frauen und Kinder. Man war von ihnen etwa 20 Doppelschritte entfernt, und der Steuermann schickte sich auch schon an, sein Fahrzeug in die enge Einfahrt zu lenken. Den Kommissaren und der begleitenden Schutzmannschaft war es, als ob sie mitten durch die bunte Menge schwebten. So dicht hatten sich die Leute zu beiden Seiten der Hafenanlagen gedrängt.
Publius hatte sich weit über die Reling gebeugt und schaute in die braun gebrannten Gesichter der Afrikaner. In manchen sah er Misstrauen und Furcht empfehlen, in vielen aber auch Hoffnung und Vertrauen. Einige winkten ihm zu, er winkte zurück. Aber der tadelnde Blick Nasos, seines Vorgesetzten, ließ seinen Arm erstarren. Er wunderte und fragte sich, warum im Naso diese freundliche Geste verboten habe, und fand keine Antwort.
Publius war erst 19 Jahre alt, und seine blauen Augen blickten noch recht unsicher in die Welt. Er war teils durch Zufall, teils durch ein Machtwort des neuen Volkstribunen nach Karthago gekommen. Dieser hatte seine tribunizische Gewalt dadurch unter Beweis gestellt, dass er einen Bürgerlichen den Kommissaren als Fachbegleitung durchgesetzt hatte. Sonst war diese Ehre ausschließlich ein Privileg der römischen Aristokratie. Fern politischer Wirren hatte er bei seinem Vater in der Tonvasenherstellung gelernt. Publius besaß wenige, aber gute Freunde. Die meisten wollten mit diesem träumerischen, in sich gekehrten Menschen nichts zu tun haben. Überdies leuchten aus seinem Kopf zwei seltsam blaue Augen, womit er so manches Mal Unbehagen unter seinen Kameraden ausgelöst hatte. Sein Vater hatte ihn nur ungern gehen lassen, weil er wusste, dass ihm das halb militärische Dasein in der Schutzmannschaft und der Aufenthalt in der verkommenen und durch Reichtum und Üppigkeit zügellos gewordenen Stadt verderben könnte. Hatte er doch seinen Sohn in altväterlicher Strenge aufgezogen und vom sittenlosen Treiben seiner Altersgenossen ferngehalten! Aber er war auch nicht so verstockt, um auf seiner Weigerung zu bestehen und die ihm erwiesene hohe Ehre zurückzuweisen.
Harso Bittet um Roms Hilfe
Auf der rechten Seite des Seglers hatte man eine kleine Rednertribüne errichtet, auf die einen schon betagter Mann, zuschritt und langsam deren Holzstufen erklomm. Nach kurzer Verbeugung richtete er sofort seine Rede an die Kommissare, die mit starrer Miene dem unerwarteten Treiben zugesehen hatten und sich nun lässig über die Reling beugten.
„Ehrwürdige Abgesandte der mächtigen Stadt Rom. Wieder einmal hat euch die große Aufgabe in unsere Stadt geführt, einen Streitfall zwischen dem räuberischen Massinissa und uns zu schlichten. Vor rund zwei Monaten hatte dieser unverschämte Numidier-Fürst eine unserer fruchtbaren Getreideprovinzen, die Felder von Bagradas, überfallen und gebrandschatzt. Keiner der vielen Besitzer erlebte nach dieser Mordnacht den anderen Morgen. Als dann alles vernichtet war, die Höfe verbrannt, die Kornfelder durch wilde Pferde zertrampelt waren, da erschien noch, wahrscheinlich, um uns zum äußersten und somit zum Vertragsbruch mit euch zu reizen, Gesandte des Fürsten, mit der Forderung, man möge sie entschädigen. Als unser Rat sie fragte, wofür in aller Welt wir sie denn entschädigen sollten, da doch unser eigenes Gebiet von jenen in so schimpflicher Weise überfallen worden wäre, da erhoben sie sich höhnisch grinsend von ihren Sitzen und bemerkten. Genau das Gegenteil sei der Fall, wir hätten ihre fruchtbare Ebene überfallen und die Felder, mit dem noch so wertvollen Korn, mit unseren Elefanten niedergewalzt. Da sie aber unsere Vernichtung durch den römischen Staat nicht wünschten, hätten sie auf eine Anzeige in Rom verzichtet, und forderten lediglich die bescheidene Entschädigungssumme von 200 Talenten. Dass dieses Gesindel von Botschaftern nicht mehr lebend die Stadt verließ und der gerechten Empörung zum Opfer fiel, mögen die Herren uns verzeihen. In aller Welt wird das römische Recht und Gesetz gepriesen. Unsere Stadt hofft, dass uns dieses Mal recht zugesprochen und der frevelhafte Massinissa auf seinem Thron in die Schranken gewiesen wird. Die Stadt wird sich auch nicht undankbar zeigen und Rom mit noch größeren Getreidelieferungen unterstützen.“
Die Kommissare besprachen sich kurz und schickten ihren Führer Naso nach vorn. Dieser sagte nur stolz und knapp, sie sollten ihre Entscheidung erst nach der Untersuchung erwarten und nicht vorwegnehmen. Zuvörderst, braucht er einen sicheren Ankerplatz und Unterkunft für sich und die Wachmannschaft.
Der Alte gab zur Antwort, „Eine vornehme, geräumige Villa in der Vorstadt Magalia ist für euch geräumt worden. Auch für die Wachmannschaft ist gesorgt. Sie ist meiner Ansicht nach überflüssig. In Karthago wird das Gastrecht genauso geachtet wie in Rom. Wer als Freund und Helfer zu uns kommt, wird als solcher auch behandelt. In meinem Hause draußen in der Vorstadt ist auch noch Platz für einen Soldaten. Was das Schiff anbelangt, so ist es dafür bestens gesorgt. Es gibt keinen sichereren Ankerplatz auf dieser Welt, als der Kriegshafen Kathon“, beendete mit stolzen Worten der Karthager seine Rede und wies mit dem Zeigefinger zu den Stadtmauern.
Der Gang zu Harsos Villa
Die Mannschaft jedoch wollte unter sich bleiben, aber da man den Redner nicht vor den Kopf stoßen wollte, konnte man seine Einladung auch nicht zurückweisen. Alle blickten Publius aufmunternd an, der bis jetzt dem sich langsam öffnenden Schleusentor zugesehen hatte. Er hatte sich noch wenig an die rauen Sitten seiner Kameraden gewöhnt, und so war’s ihm nur recht, sich in anderer Gesellschaft bewegen zu dürfen.
Sich selbst verspottend, bemerkte er nur hierzu, „Da habt ihr wieder einen Dummen gefunden.“
Er meldete sich bei Naso ab und stieg die eiserne Treppe hinab, die man ans Schiff gelegt hatte. Während der römische Segler noch auf seine Einweisung wartete, schritt Publius an der Seite seines Gastgebers durch das mit Eisenbeschlägen verstärkte Tor. Der junge Römer staunte nicht wenig, als er hinter der mächtigen Mauer eine große Wasserfläche erblickte. Ein Fackelschein erleuchtete in der Mitte die Residenz des Admirals. Ihr Glanz spiegelte sich im Wasser wider.
„Ein See, eine Insel, so etwas Ähnliches habe ich noch nie gesehen“, sagte Publius.
„Das ist kein See, junger Freund“, klärte ihn sein Begleiter auf. „Das ist unser Kriegshafen Kothon.“
Ein Schauer der Ehrfurcht vor dieser rätselhaften Stadt ergriff für kurze Zeit Publius. In ihren Umrissen lagen kaum erkennbare Kriegsschiffe vor Anker an der ringförmigen Straße, die den Hafen umschloss. Strahlenförmig weiteten sich von hier enge Gassen in Richtung Stadtmitte ab. Die beiden überquerten den Gemüsemarkt, der sich links an den Kriegshafen anschloss. Obwohl es schon recht dunkel war, fand Harso – so hieß nämlich der betagte Gastgeber – bald die Gasse, die an einem sechsstöckigen Wohnblock vorbei rechts mitunter der Stadtmauer entlang nach Norden führte. Wie vor allem Unbekannten hatte Publius auch hier ein wenig Angst und war furchtsam bedacht, seinen Begleiter nicht aus den Augen zu verlieren, und rückte näher an ihn heran. Außer ihren klappernden Schritten war nichts zu hören. Kein Mensch wohnte in dieser düsteren, dem Meer zugewandten Gegend. Die riesenhaften Steinblöcke der Stadtmauer trieften vor Feuchtigkeit, und als der Mond bisweilen durch die hohen Häuser hinter ihnen hervorlugte, erhellten sich die Steine wie Silber. Zu ihrer linken mussten sich unter den niedrigen Kelleranlagen ungeheure Lager befinden, die mit Elefantenfutter oder ähnlichem angefüllt zu sein schienen, denn es schwebte ein süßlich herber Duft in der Luft. Plötzlich wurden sie angesprochen. Ein Wachtposten, mit einer langen Lanze bewaffnet, verlangte das Kennwort.
„Abendsonne“, gab Harso zurück. Dann schritten die beiden durch das halb geöffnete Stadttor.
„Du wohnst außerhalb der Stadt?“, fragte Publius ungläubig.
„Ich wohne in der Vorstadt Magalia. Eine Kontrolle war früher zwischen den beiden Stadtteilen nicht üblich, aber seit die Lage so gespannt ist und wir auf jede Frechheit von Seiten Massenissas gefasst sein müssen, ist auch die Zwischenmauer bewacht, die Magalia von Karthago trennt.“
„Dann sind die Verteidigungswälle hier noch gar nicht zu Ende?“
„Ganz recht. Sie erstrecken sich noch weit nach Norden. Zum größten Teil sind sie sogar natürlich. Die steilen Felsenklippen bieten gegen den Angreifer von der See den besten Schutz.“
Sie hatten das Tor hinter sich gelassen. Wenn Publius rechts nicht die Steinquader der Mauer gesehen hätte, wäre er tatsächlich überzeugt gewesen, er befände sich in offener Landschaft. Sie kamen an Oliven und Apfelsinenhainen vorbei, die ihm alle deutlich machten, dass sich die Stadt bei einer Belagerung lange selbst ernähren könnte. Da ertappte er sich dabei, dass alle seine Gedanken einen Krieg mit Karthago in Erwägung zogen. War er so den Demagogen zum Opfer gefallen, die er oft in Rom zur Menge hatte sprechen sehen? Stand es so schlimm um das stolze Karthago? Mitleid ergriff sein weiches Herz. Hatte Rom jemals eine demütigere Stadt vorgefunden? Hatte Karthago nicht jede der harten Friedensbedingungen bis auf die letzte gewissenhaft erfüllt. All das fragte sich Publius, während sie an den fruchtbaren Anbauflächen vorbeigingen. Dann hatten sie Harsos Landhaus erreicht, das vom Weg durch eine gepflegte Parkanlage getrennt war.
Publius Lernt Bersika Kennen
Laut bellend, kam ein schwarz-weiß gefleckter Wüstenhund aus dem Dunkel hervorgeschossen und verstummte sofort, als er seinen Herrn erkannt hatte. Alsbald regte sich emsiges Leben in der Vorhalle des Landhauses. Sklaven zündeten Fackeln an, andere öffneten das große Portal. Und als Harso und Publius die Treppen hinaufstiegen, standen auch schon die Hausfrau und Bersika, die 19-jährige Tochter, bereit, die Heimkehrenden zu empfangen. Im Schein der Fackeln leuchtete ein großartiger Teppich, in dem herrliche Farben eingewoben waren. Dieser führte ins Hausinnere.
“Dies ist also unser römischer Gast”, begann so die gültig dreinblickende Hausmutter. Wir hoffen, dass du dich bei uns wohlfühlst. Du hast sicher guten Appetit von der See mitgebracht. Das Abendessen ist auch schon gedeckt. Überwältigt von der unerwarteten Herzlichkeit und Wärme, mit der er empfangen wurde, schwieg Publius nur und nickte. Der Speisesaal, den sie nun betraten, war reich und doch schlicht zugleich ausgestattet, wie er es von seiner Vaters Werkstattwohnung gewohnt war. Jedoch waren die Wände mit seltenen Edelhölzern verkleidet. An den mannigfaltig gezierten Holzsäulen waren langsam abbrennende Fackeln befestigt, die den Raum mit gleichmäßigem Licht versorgten. Am anderen Ende befand sich ein weiterer Eingang, den offensichtlich die Bediensteten zu nehmen pflegten, um das Essen hereinzutragen. Von dort kam ein verlockender Bratenduft, der Publius Hungergefühl noch steigerte und ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Die Mitte füllte ein großer Eichentisch aus, in dem eine geschliffene Marmorplatte eingelassen war. Um diesen ließen sie sich auf ledernen Liegen nieder, und zwar so, dass Publius Bersika gegenüberzusitzen kam. Was die Aufmerksamkeit des jungen Römers auf sie lenke, war weniger ihre liebliche Gestalt als vielmehr ihr strohblondes Haar und ihre blauen Augen, die ihm unergründlich entgegen streiten. Wie kommt das Mädchen zu ihrem nordischen Aussehen, stellte er sich insgeheim die Frage. Stumm saß sie ihm gegenüber, nur die Augen auf ihn gerichtet. Währenddessen musste er von seiner Seereise berichten, was ihn ein wenig ablenkte. Er war froh, sein Schweigen brechen zu dürfen. Nachdem sie einen Becher spanischen Wein getrunken hatten, wurde das Essen serviert. Ein herrlich zu gerichteter Antilopenbraten, mit unbekannten Früchten bereichert, dampfte in einer großen Silberschale. Harso sprach Publius zu, er solle nur kräftig zulangen. Das ließ er sich auch nicht zweimal sagen und griff nach einem zugeschnittenen Fleischstück, das von einem Salatblatt eingehüllt war, damit man sich nicht die Finger zu beschmutzen brauchte. Das Mädchen aß wenig. Jedes Mal, wenn Publius aufblickte, schauten ihn ihre Augen gebannt an und ließen eine Welle heißen Blutes in seinen Kopf schießen.
“Bersika, du hast ja heute Abend noch gar nichts gesagt. Du bist doch sonst nicht so schweigsam”, wandte sich die Mutter verwundert an ihre Tochter.
“Ach nichts, Mata, nichts. Ich bin nur so schrecklich müde”, brachte die Schweigsame vor. Und um das Gesagte glaubhaft zu machen, erhob sie sich von ihrem Ledersitz.
“Ich danke für die Speise und sage allen eine gute Nacht. Tanith behüte euch.” Jeder wurde mit einem kurzen Kopfnicken bedacht, erst der Vater, dann die Mutter. Ein tiefer Blick schien gleichsam Publius Herz zu treffen und für einen Augenblick den jungen Römer aus der Wirklichkeit zu reißen. Es war ihm, als ob er tief in einem goldenen, warmen Strom der Seligkeit wäre. Eine Weile noch starrte er auf den Vorhang, hinter dem Bersika verschwunden war.
“Nun, wie gefällt es dir bei uns?”, riss ihn Harso aus seiner Verträumtheit.
“Himmlisch!”, rief er begeistert, dann wie sich besinnend. “Du bist so gütig zu mir, Harso! Danke, es gefällt mir sehr. Danke!” Nachdem sie noch eine Weile geplaudert hatten, bat Harso seine Frau, dem Gast seine Schlafkammer zu zeigen. Denn sie waren alle durch das Gespräch und den schweren Wein müde geworden. Publius ging an Matas Seite zum Zimmer hinaus, während Harso ihnen nachdenklich nachsah. Sie stiegen eine schmale Treppe hinauf und betraten einen schmalen Gang, an dessen Ende ein farbenfroher Vorhang herabhing. Dort sollte er also ruhen.
“Schlaf schön und träume süß, mein lieber Publius”, verabschiedete sich mütterlich die Hausfrau. “Hoffen wir, dass wir bald friedlichere Zeiten erleben. Hader und Zwist zehren am Herzen und machen krank. Glaube mir”, beendete sie ihre Rede, “die Karthager wünschen nur ihren Frieden und ihre Ruhe. Die Eroberungslust ist ihnen seit Hannibal gründlich vergangen”. Sie hatte zu ihm gesprochen, als ob Publius als Mensch mit römischem Bürgerrecht Einfluss auf das politische Geschehen gehabt hätte. So kam es ihm wenigstens vor. Verlegen sucht er nach einer passenden Antwort, sagte dann, “Es wird sich für uns alle zum Guten wenden. Gute Nacht!”
Publius Sehnt sich nach Frieden
Er teilte den Vorhang und begab sich in sein kleines Gemach. Durch ein großes Fenster drang matter Mondschein und erhellte nur wenig den Raum. Publius fand sein Nachtlager ausgezeichnet und räkelte sich vergnügt in den weichen Seidenkissen. Jedoch ließ der Schlaf lange auf sich warten. Er überdachte noch einmal, was Mata zu ihm gesagt hatte. Wie konnte er ihre Wünsche so gut verstehen! Warum machte der Senat ihnen auch das Leben so schwer! Konnten sich die beiden Städte nicht schwesterlich die Hand reichen, nachdem sie sich so lange befehdet hatten? Wenn alle Menschen so wären, wie dieser edle Harso, der im Punischen Rat stets die Stimme der Versöhnung und Mäßigung ertönen ließ! Wie segensreich würden sich des Menschen Geist und Kraft entfalten! Fruchtbare Landstriche gäben unter der fleißigen Hand des Bauern dem Menschen ihre reichen Früchte.
Seine Fantasie malte sich in immer verlockenderen Farben den Zustand ewigen Friedens aus. Und alsbald wurde er von seinen eigenen Ideen weggerissen in einem farbenfrohen Traumzustand. Nicht mehr Gedanken jagten durch seinen Kopf, Gefühlsfetzen zogen hastig am Horizont seines Gemüts vorbei. Dann erfasste ihn ein Strudel neuer Bilder, alle ein Stück Glückseligkeit verheißend. Blühende Auen, schweigsame Bergseen, süßlich duftende Quitten, ehrwürdige Tempel. Märchenschlösser, fröhliche Menschen, lieblich-milder Sonnenschein, rauschendes Meer. Die Bilder wollten nicht aufhören, sich zu erneuern und zu wiederholen. Jetzt begannen sie sich gar zu vermischen, zusammenzurücken und zu drehen.
Plötzlich befand sich Publius wieder in dem Gold-warmen Strom, indem er sich auflöste und emporgerissen wurde. Und weit, weit oben leuchten zwei blaue Augen.
„Verflucht”, sagte Publius zu sich selbst, „ich bin in sie verliebt”. Er biss sich in seinen Daumen und versuchte, die Reste der Traumbilder endgültig zu vertreiben.
„Ich blödsinniger Affe, was bilde ich mir nur ein. Als ob sich eine vornehme Punierin mit mir lächerlichen Soldaten abgäbe.“ Aber all das Murmeln des Protestes währte nicht lange. Die Erinnerung an das eben erlebte zeigte sein Gefühl aufs Neue an. Und weiter begann das reizende Farbenspiel und endete alsbald mit den noch strahlenden Augen Bersikas. Nur waren sie diesmal nicht mehr ganz so weit. Wieder reihten sich Haine, schäumende Meereswogen, fröhliche Menschen hintereinander, nur viel schneller und nicht so klar, in den Hintergrund gedrängt, durch die nun alles überstrahlenden blauen Augen. Als Publius in einen tiefen Schlummer fiel, dämmerte im Osten schon der Morgen.
Ein Böses Erwachen
Ein helles Glöckchen, das von außen betätigt werden konnte, tönte über seinem Bett. Die Sonne füllte den Raum mit ihrem grellen Licht. Publius rieb sich die Augen. Ihm war, als habe er die Nacht von Bersika geträumt, und er grübelte in seinem Gedächtnis. Ja, er konnte nicht einmal entscheiden, ob es Traum oder Wirklichkeit war. Während er noch so nachdachte, drangen harte römische Kommandoworte an sein Ohr. Er schrak zusammen. Was hatte das zu bedeuten? Die Stimmen verloren sich in der Vorhalle, und er hörte Harso sagen: „Wenn der Delegationsführer es so will, werde ich ihn gleich nach dem Frühstück ins Lager schicken.“
Dann nähern sich Schritte seiner Kammer. Harso trat durch den Vorhang, seine Gesichtszüge verrieten seine eben erfahrene Enttäuschung.
„Du weißt schon Bescheid, Publius. Du musst gehen! Naso ließ mir eben mitteilen, dass er angesichts so vielen Volkes gestern Abend meine Bitte nicht abschlagen konnte und nur dich für die eine Nacht mitgab. Denn du gehörst ins Lager der Kameraden und hättest dort deine Arbeit. Und als ich Einwände machte, schleuderte mir einer hochmütig ins Gesicht, es sei schon schimpflich genug, eine Nacht bei einem Karthager schlafen zu müssen.“
Die Erregung und gerechte Empörung ließen den Kaufmann eine kleine Pause einlegen. Dann sprach er ruhig und ernst: „Die Römer haben sich in den letzten 50 Jahren gewandelt. Einst galten ihm Sitte und Gesetz mehr als Ehre und Macht. Als Pyrrhus die italienischen Lande beherrschte und den Römern endgültig ein Ende zu machen drohte, da selbst ließen Sie sich nicht auf dessen Leibarztes Ansinnen ein, sich durch einen Meuchelmord von der Geisel Mazedoniens zu befreien. Oder im großen Hannibal Krieg, da unsere Gesandten gerne und furchtlos zu römischen Verhandlungen gingen, da sie wussten, dass sie keine Misshandlungen zu befürchten hatten. Aber Edelmut und Sinn für Gerechtigkeit sind den Römern entschwunden.“
Wieder war die Erregung mit ihm durchgegangen, und er hatte mehr zu sich selbst als zu Publius gesprochen. Als er sich wieder gefasst hatte, sagte er mit fast melancholischer Stimme: „Die Kommission wird unserer Stadt Unheil bringen. Die Männer blickten so finster drein. Doch nun gehe und zieh dich an, damit wir Vormittag wenigstens noch einmal zusammen speisen können.“
Das Poltern der Soldaten und nun die Rede Harsos hatten Publius aus seiner verträumten Stimmung gerissen. Sein wacher Sinn für Gehorsam, den er in der halbmilitärischen Gruppe auf Schiff schon gelernt hatte, mahnte ihn zum sofortigen Aufbruch.
„Wann soll ich im Quartier sein?“
„Wenn der Schatten der Mauerzinnen zur Stadt hinauswandert!“
„Also Mittag. Dann tut es mir leid, dein Angebot ablehnen zu müssen, Harso. Ich werde sofort aufbrechen. Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren.“
„Ich sehe, du musst. Ich möchte dich darum nicht weiter nötigen“, antwortete der Kaufmann, ohne dass Unwillen sich seiner bemächtigte. Ein gutes Weilchen später war es dann so weit. Er hatte sich bereits bei Harso und Mata verabschiedet, welche bei einer kleinen Zwischenmahlzeit im Speisesaal saßen. Er schritt die Vorhalle hinaus in den herrlichen Garten, an dessen Ende die Straße zum Kriegshafen entlangführte. Aus dem Fenster klang nochmals die dunkle Männerstimme Harsos: „Vergiss das Kennwort nicht, Publius. Es ist Palmenblatt, Palmenblatt.“
Bersika
Ein helles Glöckchen, das von außen betätigt werden konnte, tönte über seinem Bett. Die Sonne füllte den Raum mit ihrem grellen Licht. Publius rieb sich die Augen. Ihm war, als habe er die Nacht von Bersika geträumt, und er grübelte in seinem Gedächtnis. Ja, er konnte nicht einmal entscheiden, ob es Traum oder Wirklichkeit war. Während er noch so nachdachte, drangen harte römische Kommandoworte an sein Ohr. Er schrak zusammen. Was hatte das zu bedeuten? Die Stimmen verloren sich in der Vorhalle, und er hörte Harso sagen: „Wenn der Delegationsführer es so will, werde ich ihn gleich nach dem Frühstück ins Lager schicken.“
Dann nähern sich Schritte seiner Kammer. Harso trat durch den Vorhang, seine Gesichtszüge verrieten seine eben erfahrene Enttäuschung.
„Du weißt schon Bescheid, Publius. Du musst gehen! Naso ließ mir eben mitteilen, dass er angesichts so vielen Volkes gestern Abend meine Bitte nicht abschlagen konnte und nur dich für die eine Nacht mitgab. Denn du gehörst ins Lager der Kameraden und hättest dort deine Arbeit. Und als ich Einwände machte, schleuderte mir einer hochmütig ins Gesicht, es sei schon schimpflich genug, eine Nacht bei einem Karthager schlafen zu müssen.“
Die Erregung und gerechte Empörung ließen den Kaufmann eine kleine Pause einlegen. Dann sprach er ruhig und ernst: „Die Römer haben sich in den letzten 50 Jahren gewandelt. Einst galten ihm Sitte und Gesetz mehr als Ehre und Macht. Als Pyrrhus die italienischen Lande beherrschte und den Römern endgültig ein Ende zu machen drohte, da selbst ließen Sie sich nicht auf dessen Leibarztes Ansinnen ein, sich durch einen Meuchelmord von der Geisel Mazedoniens zu befreien. Oder im großen Hannibal Krieg, da unsere Gesandten gerne und furchtlos zu römischen Verhandlungen gingen, da sie wussten, dass sie keine Misshandlungen zu befürchten hatten. Aber Edelmut und Sinn für Gerechtigkeit sind den Römern entschwunden.“
Wieder war die Erregung mit ihm durchgegangen, und er hatte mehr zu sich selbst als zu Publius gesprochen. Als er sich wieder gefasst hatte, sagte er mit fast melancholischer Stimme: „Die Kommission wird unserer Stadt Unheil bringen. Die Männer blickten so finster drein. Doch nun gehe und zieh dich an, damit wir Vormittag wenigstens noch einmal zusammen speisen können.“
Das Poltern der Soldaten und nun die Rede Harsos hatten Publius aus seiner verträumten Stimmung gerissen. Sein wacher Sinn für Gehorsam, den er in der halbmilitärischen Gruppe auf Schiff schon gelernt hatte, mahnte ihn zum sofortigen Aufbruch.
„Wann soll ich im Quartier sein?“
„Wenn der Schatten der Mauerzinnen zur Stadt hinauswandert!“
„Also Mittag. Dann tut es mir leid, dein Angebot ablehnen zu müssen, Harso. Ich werde sofort aufbrechen. Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren.“
„Ich sehe, du musst. Ich möchte dich darum nicht weiter nötigen“, antwortete der Kaufmann, ohne dass Unwillen sich seiner bemächtigte. Ein gutes Weilchen später war es dann so weit. Er hatte sich bereits bei Harso und Mata verabschiedet, welche bei einer kleinen Zwischenmahlzeit im Speisesaal saßen. Er schritt die Vorhalle hinaus in den herrlichen Garten, an dessen Ende die Straße zum Kriegshafen entlangführte. Aus dem Fenster klang nochmals die dunkle Männerstimme Harsos: „Vergiss das Kennwort nicht, Publius. Es ist Palmenblatt, Palmenblatt.“
Als er im Gartentor vorüberging, sah er einen Schatten in einem der Seitenwege des Gartens. Es war Bersika, die über einem Quittenstrauch gebeugt nach den duftenden Früchten griff und sie in eine braune Ledertasche sorgfältig legte. Der junge Römer machte halt und blickte sich sehnsuchtsvoll nach ihr um. Sie schien auf ihn gewartet zu haben. Denn als er stehenblieb, hatte sie ihre Tasche fallen lassen und war aufgesprungen und direkt auf ihn zugegangen. Freudige Überraschung leuchtete in seinen Augen auf. Aber sogleich machten sich Verlegenheit und fürchterliche Schüchternheit in ihm breit. Wie gerne hätte er gefragt, ob sie ihn gerne habe trotz seiner fremden Herkunft, ob sie diese Nacht an ihn gedacht habe. Aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Er drückte nur stumm ihre Hand und sagte dazu: „Wir sehen uns wieder, Bersika, wir sehen uns wieder.“
„Ja, gerne, wirklich gerne“, rief es freudig aus ihr heraus. Publius war wieder von ihrem Blick gefangen. Und nun merkte er auch, was so faszinierend an ihr war. Eine kleine, kaum sichtbare Narbe verband ihre Augen und lenkte den Blick immer dorthin. War sie auch nach römischem Geschmack nicht sonderlich hübsch, so übte gerade diese Narbe einen eigentümlichen Reiz aus. Publius wurde plötzlich vom Wunsch gepackt, sie an sich zu reißen und ihr seine Liebe zu gestehen. Aber die Scheu war größer als das Begehren, und so machte er sich von ihr los, trat auf die Straße und schritt forsch auf die innere Stadtmauer zu. Er wandte sich nicht mehr um in der Furcht, vom Gefühl überwältigt zu werden. Aber er spürte ihre Augen auf sich gerichtet, und seine Befangenheit hörte erst dann auf, als er die erste Straßenbiegung erreicht hatte.
Überglücklich begann er zu laufen, um die freudige Stimmung richtig austoben zu lassen. Ganz außer Atem fiel er wieder in Schritttempo. Nun kamen ihm auch wieder andere Gedanken. Warum war er nicht weitergegangen? Würde sie ihn verstanden haben? Die Begegnung schien ihm wie ein Sieg in einer Schlacht, den der Feldherr nicht richtig auszunutzen verstand. Er dachte wieder an ihren Vater, und bittere Gefühle stiegen in ihm auf. Er war zu sehr Römer, um dessen Vorwürfe so einfach hinnehmen zu können, aber auch wieder zu gerecht, um sie kurz entschlossen von der Hand zu weisen. Publius wurde sich darüber nicht einig und ärgerte sich.
Rauer Empfang im Römischen Lager
Pfeifen und Grölen empfingen ihn, als er das massive Eckhaus am Kothon unweit der Felsmauer betrat. Publius war bestürzt. Seine Kameraden tranken vor dem Gebäude wie gemeine Menschen am helllichten Tag den schweren, afrikanischen Wein. Die einen würfelten um Geld. Nach jedem Wurf mischte sich ein Wut- und Freudengeschrei zu einem furchtbaren Gegröle. Andere berichteten ihre neuesten Erfahrungen im Umgang mit leichten Mädchen.
Publius beeilte sich, durch die rauen Gesellen hindurch zu kommen, um sich in der kleinen Wachstube zurückzumelden. Seine Schritte wurden unsicher. In dieser Gesellschaft konnte er sich nicht wohlfühlen. Allmählich kam ihm auch wieder zu Bewusstsein, weshalb er zu der Wachmannschaft zurückmusste. Er sollte Dienst tun, Waffen reinigen und Ähnliches mehr. Aber hier sah er nichts, was an eine solche Tätigkeit erinnerte. Sollte man ihm seinen Aufenthalt dort nicht gegönnt haben? Oder war es sogar der Hass gegen die Karthager, der ein friedliches Beisammensein verhinderte? Jetzt hatten die Ersten ihn erkannt und wiesen mit lauten Worten auf den Karthager Freund. Ein Hohngelächter brach aus, und Publius war froh, sich bei seinem Vorgesetzten in der kleinen Wachstube zurückmelden zu können. Dieser machte nur eine lästige Handbewegung, die ihm andeutete, zu seinen Kameraden zurückzukehren. Jener hatte jedoch gehofft, einen Auftrag zu erhalten, um wenigstens beschäftigt zu sein. Und so, sich, wenn schon nicht körperlich, dann aber doch geistig zurückziehen zu können.
Kaum hatte er den sonnigen Vorplatz betreten, als er alle Augen aus sich gerichtet sah. In ihnen las er nur Spott und Verachtung. Halb scherzhaft, halb bösartig schossen die Verwegensten die Giftpfeile ihres gehässigen Mundwerks auf ihn ab.
„Du Truthahn Klüngel, was macht die römisch-karthagische Allianz?“
„Der hat wohl mit Harso auf Roms Untergang getrunken!“
„Seht doch mal seinen Schlafzimmerblick, der hat bestimmt die Nacht bei Harsos Tochter gepennt!“
„Wie, Harso hat eine Tochter?“
„Na klar, einen ganz steilen Zahn sogar. Ich glaube, die stammt noch nicht mal von Harso. Von wegen der blauen Augen und so!“
Ein schrilles, wollüstiges Gelächter ließ Publius in seinem Inneren erbeben. Er hatte sich stumm auf eine Steintreppe gesetzt. Seine Kameraden sollten nicht sehen, wie er vor Wut und Ohnmacht kochte. Publius war nur vom Gefühl regiert. Er empfand alles Schöne, aber auch Abgrund hässliches viel tiefer als die anderen. Publius war nur vom Gefühl regiert. Jedoch litt er unter der Unfähigkeit, sein Gefühl, sei es nun echte Freude, oder sei es heiliger Zorn, schnell und treffend in Worte zu fassen. So leuchtet er gleich der verdeckten Sonne nur sich selbst und war der Umwelt ein Schatten.
Auf der Suche eines Bergsees
Es gab Nachturlaub bis zum nächsten Morgen. Tag für Tag hatte man vor dem Quartiergebäude untätig herumgelungert. Nun hatten die Soldaten endlich durchgesetzt, sich einmal in der großen Welt statt ordentlich vergnügen zu dürfen. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, als sich niemand mehr bei der Unterkunft aufhielt. Nur Publius lag noch auf dem verdorrten Rasen des Vorplatzes und grübelte, was er mit sich und der Zeit anfangen solle. Da kam ihm ein guter Gedanke. Harso hatte an jenem Abend von einem kleinen See gesprochen, der ganz im Norden der Halbinsel liegen sollte. Eine Wanderung dorthin versprach ihm Erquickung von dem täglichen Einerlei des halbmilitärischen Lebens. Er holte sich beim Wachhabenden das Kennwort ein, es war dieses Mal Apfelbaum. Bald hatte er die Vorstadt Magalia durchmessen und näherte sich der äußeren Stadtmauer. Die Wachposten blickten den Ankommenden misstrauisch an.
“Was willst du in unserer Gräberstadt?”
“Gräberstadt, dort will ich gar nicht hin. Ich will zu dem See, der in den Bergen liegen soll.”
Die Wache schüttelte verwundert den Kopf über einen solchen ausgefallenen Wunsch, und nachdem sie das Kennwort vernommen hatte, ließ sie ihn passieren. Hinter der wuchtigen Stadtmauer bot sich ihm ein seltsamer Anblick. Das Abendrot beleuchtete gespenstisch die Gräber der karthagischen Ahnen. Überall, wo er hinblickte, lagen Marmorplatten auf dem lehmig steinigen Boden. Die meisten von ihnen waren von Pinien umsäumt, die nun schon tiefe Schatten über die graue Erde warfen. Besonders vornehme und reiche, vorwiegend adlige Kaufleute, hatten ihre Grabstätten im Voraus gebaut, große tempelartige Gebilde. An ihnen schritt er jetzt vorbei, immer nach Norden zuhaltend. Die Grabplatten wurden jetzt zahlreicher und waren weniger reich ausgestattet. Unkraut und Dornbüsche machten den Zugang zu Ihnen unwegsam. Nur der schmale Leinpfad erlaubte dem Wanderer noch, ungehindert weiterzugehen. Ein kleines, eisernes Tor schloss den Friedhof nach Norden hin ab. Die Steinmauer, die sie umschloss, war niedrig und leicht zu überspringen. Sie war auch nicht zum Schutz gegen Feinde angelegt, sondern sollte nur die Zugehörigkeit zur Stadt andeuten. Der junge Römer stand, als er durch das Tor gegangen war, vor einer Weggabelung. Der schmale Pfad nach rechts führte an der Friedhofsmauer entlang, direkt zu den Meeresklippen, die er schon vom Schiff aus betrachtet hatte. Der Linke wandte sich in langen Serpentinen ins Innere der Halbinsel. Ein Dritter stieg geradeaus, nordwärts, ins Gebirge hinein. Dieser war so wenig begangen und so von Steinen bedeckt, dass man ihn kaum bei der schnell hereinbrechenden Dunkelheit erkennen konnte. Diesen musste der junge Römer einschlagen, wenn er den See finden wollte. Bis hierhin haben ihm die freundlichen Bewohner Bescheid sagen können. Jetzt musste er sich selbst zurechtfinden. Im Laufschritt stürmte er den leicht ansteigenden Berg hinauf. Denn wenn der letzte Schimmer des Tages verblasst war, konnte er leicht vom Weg abkommen und vielleicht in eine Schlucht oder ins Meer stürzen, dachte er bei sich. Aber seine Kräfte erschöpften sich bald, zumal es nun zunehmend steiler wurde. Er setzte sich auf einen Granitblock, um sich ein wenig auszuruhen. Er blickte hinauf zum Kamm des Berges und wurde zu seinem großen Schrecken gewahr, dass er vom steinigen Pfad abgekommen war. Oder war es vielleicht nur zu dunkel, dass der Weg und das Gelände gleich grau aussahen? Er wusste es nicht.
Knappe Flucht vor dem Sicheren Tod
Er wagte auch nicht weiterhin hinaufzusteigen, in der Furcht, irgendwo abzustürzen. Er harrte dann wohl eine Stunde auf seinem harten Sitz aus und blickte zu den Sternen. Dann wurde es plötzlich heller. Der Mond war aufgegangen, und sein silbernes Glitzern schien sich nach Osten hin bis in die Unendlichkeit auszudehnen und den erloschenen Glanz der Sonne verspotten zu wollen. Ein langer Schatten zeichnete den hockenden Körper von Publius auf dem felsigen Grund ab. Nur der Kopf, ja richtig, nur der Kopf, fehlte an seinem dunklen Gefährten. Heiß und kalt lief es ihm über den Rücken. Etwa fünf Doppelschritte von ihm entfernt fiel die Felswand fast senkrecht ab. Erst nach einer langen Weile wagte es Publius, sich zu erheben und der Klippe näherzutreten. Er blickte in die Tiefe und wandte sich augenblicklich um. Unendlich tief schien der Abgrund, da die Dunkelheit die wahre Tiefe nicht verriet. Land einwärts und zum Berg hinauf, aber erkannte er jeden Busch und jeden Stein. Auch den Pfad fand er wieder, der sich in engen Schleifen zu einem schmalen Bergeinschnitt wand. Hurtig hatte er die letzte halbe Meile bis dorthin auch noch gemeistert und guten Mutes machte er sich daran, ins Tal hin abzusteigen.
Er hatte keine Furcht mehr. Denn er hatte auf der anderen Seite wieder Gebirgsland entdeckt. Also konnte unter ihm nicht das Meer liegen, sondern einzig der gesuchte Bergsee. In Gedanken malte er sich aus, dass sich ihm das Meer von drei Seiten entgegen schimmern würde, wenn er die Bergspitze noch ganz erklommen hätte. Aber er wollte von seinem einmal beschlossenen Ziel nicht abweichen und kletterte nun langsam den Felsweg hinab. Zum Glück war alles vom Mondlicht erhellt, und er brauchte sich nicht mehr so vorzusehen wie vorher. Je tiefer er wanderte, desto höher stieg auch der Mond. So kam ihm die Natur hilfreich entgegen und verhüllte ihm dennoch Ihr letztes Geheimnis in dieser schweigsamen Welt bis zuletzt.
Dann endete der Pfad plötzlich an einer saftig grünen Bergwiese, auf der einige wilde Dattel- und Pflaumenbäume ihre Äste in die stille Nacht streckten. Und weiter unten ruhte majestätisch, grünlich blau, der See. Nichts regte sich hier in der entspannenden Einsamkeit. Einen Moment blieb Publius wie verzaubert stehen, dann eilte er über das Gras. Er hatte das Ufer fast erreicht, als er über eine Baumwurzel stolperte und der Länge nach hinfiel. Das Wasser spritzte ihm ins Gesicht, was ihm jedoch nichts auszumachen schien. Denn er beugte nur den Kopf ins Gras zurück und blieb, so wie er war, bewegungslos liegen. Der feuchte Grund kühlte seine erhitzten Wangen. Hier war er glücklich und ungestört. Die Wellen des Grolls und Haders der vergangenen Tage glätteten sich in dieser einen Minute und Frieden herrschte in seiner Seele.
Der Bergsee
Langsam erholt er sich, der Mond schien jetzt ungehindert von Berg und Baum auf die Zauberwelt der Nacht. Weiter rechts zog sich eine Wiese etwas zurück und machte einem felsiger Strand Platz. Vor den Umrissen einer alten, verlassenen Hütte lag auf die Seite gekippt ein Boot. Als Publius näherkam, fand er, dass die Hütte eine ausgezeichnete Städte für sein Nachtlager bot. Durch die Öffnung erblickte er einen eichenen Tisch und dahinter eine Bank, die zwar stöhnte, wenn man sich raufsetzen wollte, und bald zusammenzubrechen drohte, wenn man seinen Wunsch in die Tat umsetzte.
“Nicht übel”, sagte Publius zu sich selbst, warf seinen leichten Mantel ab und breitete ihn über die Bank aus.
Jetzt fiel ihm das Boot am Strand wieder ein. Eine Fahrt im Mondschein, der den See in einen silbernen Spiegel verwandelte, dürfte seinen Schlaf noch versüßen. Außerdem war er hellwach und hatte noch gar nicht die Absicht, sich auf sein knarrendes Lager auszustrecken. Mit schnellen Schritten war er beim Boot, das trotz seines schäbigen, ja, verrotteten Zustandes ein recht brauchbaren Eindruck machte. Als er jedoch es ins Wasser gezogen hatte, merkte er, wie das Wasser durch ein faustgroßes Loch hinein sprudelte. Er ließ sich dadurch nicht verdrießen, sprang mutig ins Boot und stopfte kurz entschlossen sein Brottuch in das Loch hinein. Nur noch langsam sickerte das Wasser nach, aber für eine Stunde mochte es wohl reichen. Nun ergriff er die Riemen, die sich tatsächlich noch im Bootsinneren befanden, und tauchte sie ins Wasser, um als bald sich mit allen Kräften ins Zeug zu legen. Es dauerte nicht lang, so hatte er die Mitte erreicht, worauf er die Riemen wieder einzog. Die Wellen verloren sich schnell in der Weite, und der Mond schenkte dem See seinen alten Silberglanz.
Der See, ein strahlendes Auge, war geschützt in diesen Gebirgskette. Es war eingebettet, forschend auf die unermesslichen Tiefen des Alls gerichtet. Wie herrlich war es doch hier! Und wie wenig gefiel ihm das sinnlose Treiben dort draußen! Die Planken der Welt stöhnten morsch auf brüchigen Fundamenten. Es war gefährlich, sich darüber zu bewegen. Wie sollte er sich innerlich festigen, da alles um ihn herum schwankte? Er beugte sich über den Bordrand und schaute sinnend in die klare Tiefe hinab. Plötzlich spürte er den Drang, das auszusprechen, was ihn bedrückte und bewegte. Und da er niemanden hatte, der ihn hätte anhören können, zog aus der Seitentasche seines Umhangs eine kleine Papyrusrolle und einen Stift, den er als Soldat immer bei sich zu tragen pflegte. Langsam, doch stetig fließend reihte sich Zeile an Zeile, Vers an Vers.
Gedicht eines Jungen Mannes
Der Bergsee
Glitzernd, vom Mond beschienen, liegt er schweigend da,
gehorcht willig des Ruderers sanften Paddelschlag.
Sanft kräuseln sich die Wellen im stetig neuen Spiel.
Und verlieren sich in der Ferne, als hätten sie kein Ziel.
Einsam ist der Mensch, doch unendlich glücklich,
wenn er sehnsuchtsvoll sich mit der Natur vergleicht.
Sie zeigt ihm in tausend Farben, wie wichtig, ach wie wichtig,
dass man ihr im Wesen gleicht.
Müde und erschlafft von der mühevollen Fahrt in die Nacht,
hält er ein. Ins schwankende Boot zieht er die Ruder sacht.
Ein letztes Raunen der dahingleitenden silbernen Wogen
verliert sich in einem immer größer werdenden Bogen.
Der zarte Mensch, in seiner Not, sucht Ruhe und Geborgenheit,
braucht sie, um sich selbst zu ergründen und auch um sich selbst zu finden.
Fern von allem Lärm, Schreien und lästiger Geschwätzigkeit,
die aufwühlend ihn nicht lösen, sondern binden.
Dunkelblau schimmert nun der See,
bedeckt mit dünner Silberhaut,
von ihr durchdrungen zeigt er jetzt,
von unbekannter Macht gebannt,
sein grünlich-blaues Inneres, dem ahnungsvoll gebeugten Mann,
das nur in solchen stillen Stunden den Mensch noch ergreifen kann.
So schau auch du bisweilen in dich selbst hinein!
Und hast du dann dein Inneres so klar erfasst,
So wirf hinunter den großen Lebensanker dein,
Du findest dann dein Leben lang in dir Ruhe und Rast.
Auf dem Weg zum Hauptquartier
Die afrikanische Mittagssonne schien noch recht warm auf die Menschen herab, obwohl der Herbst bereits eingezogen war. Publius schritt leichtflüssig und heiter über die großzügig angelegten Plantagenwege der Vorstadt. Die Sklaven hatten Mittagspause und schnarchten im Schatten der Ölbäume. Karthagos Hauptstraßen waren alle gewölbt, damit das Regenwasser zu beiden Seiten abfließen konnte. So bildeten sich keine Pfützen, und die Fuhrwerke, die in der Hauptgeschäftszeit in großer Zahl auf und ab rumpelten, spritzten die Leute nicht nass, wenn es geregnet hatte. Sehr fortschrittlich, dachte Publius bei sich. Wenn ihm ein Ochsenkarren begegnete, so sprang er schnell zur Seite und ging dann gleich wieder auf der Straßenmitte. Jedoch Menschen zu Fuß begegneten ihm selten, es waren meist Sklaven, die Botendienste zu erledigen hatten.
Darum fiel ihm gleich das Mädchen im bunten Kleid und mit einem Korb unter dem Arm auf, das langsam die Straße heraufgeschlendert kam. Dennoch erkannte er erst im letzten Augenblick Bersika. Sie war schon halb an ihm vorbeigegangen, als er Halt machte und sich nach ihr umdrehte. Sie blieb nun auch stehen, als hätte sie nur darauf gewartet, und lächelte ihn an. Da fasste er sich ein Herz und schüttelte ihr nach Römerart beide Hände. Nachdem sie sich begrüßt und sich ihr Wohlergehen gegenseitig versichert hatten, plauderte Publius ohne Hast und ohne Scheu von seinem nächtlichen Aufenthalt am Bergsee und dessen unfasslicher Schönheit im Mondschein. Ein bezauberndes Lächeln spielte um ihren Mund.
„Du musst Großartiges erlebt haben, diese Nacht. Du siehst so verändert aus. Du strahlst eine wunderbare Ruhe aus, Publius. Ja, in der Tat, du hast dich sehr zu deinem Vorteil verändert!“
Das war aus solchem Munde zu viel des Guten, und aus war’s mit der Ruhe. So hatte ihn die Freude über ihre Worte überwältigt. Er war froh, dass sie weitersprach.
„Du weißt über mich so gut wie nichts. Darum will ich dir kurz über meine Tätigkeit im Tamithtempel berichten. Oh, nein, ich bin keine Priesterin. Mein Vater ist doch Großkaufmann, wie du weißt, und führt unter anderem kostbare rohe Salbe aus Alexandria für unsere Priesterschaft ein. Ich bringe diese Salben selbst zum Tempel, damit sie durch Sklavenhände nicht verunreinigt werden, und ich helfe, sie dort zuzubereiten. Ich arbeite gerne mit den Priesterinnen zusammen und habe schon vieles gelernt. Besonders die Heilkunde ist mir nicht mehr fremd, weil sie im Tempel oft mit Heilkräften arbeiten, um kranke Menschen mit Tamith und der Heilgottes-Hilfe wieder gesundzumachen.“
Publius hatte sie staunend angehört. Wie gerne hätte er mit ihr noch länger geplaudert. Aber er musste sich zurückmelden.
„Ich muss nun gehen, Bersika, ich habe meine Arbeit!“
Sie nickte verständnisvoll.
„Darf ich dich irgendwann einmal, wenn der Dienst es mir erlaubt, zu einem Spaziergang einladen? Nur, nur, brauche ich dann deine Adresse, damit ich dir schreiben kann.“
„Oh, schreib nicht nach Magalia. Die Boten würden dir zu viel Geld abnehmen. Schreib an Tempel T., Abteilung Mandelblüte, Eingang privat, Bersika.“
„Danke“, sagte Publius und ergriff zum Abschied ihre rechte Hand. Dann eilte er der inneren Stadtmauer zu, die Adresse immer vor sich hersagend.
Publius im Krankenlager
Schweiß überströmt langte er am Kothon an und sah seine Kameraden trunken auf dem Vorplatz liegen. Einer schnarchte lauter als der andere. Zackig meldete sich Publius bei seinem Wachhabenden zurück. Jener lächelte ein wenig über dessen Diensteifer. Sogleich erkundigte sich Publius, wann es den nächsten dienstfreien Tag gäbe.
„Tja, in 14 Tagen reisen wir ab!“
„So früh schon?“ fragte Publius erschreckt.
„Na, meinst du vielleicht, wir halten uns mit diesen Geringfügigkeiten eine Ewigkeit auf? Die Karthager sind ohnehin im Unrecht. Das stand schon in Rom fest. Also, mein lieber Publius, in acht Tagen gibt’s noch einen Nachmittag für die Mannschaften.“ Dieser wusste nicht, ob er sich ärgern oder freuen sollte. Er hat sich so an das friedliche Leben in Karthago gewöhnt, dass ihn jede feindliche Absicht gegen die Stadt wie ein persönlicher Angriff verletzte. Aber was wusste schon der kleine Wachhabende, was die Kommissare verhandelten, sagte sich Publius geringschätzig. Er ging hinaus in die Sonne und machte sich zugleich freudig daran, auf der Steintreppe, über die er seinen Mantel gebreitet hatte, einen Brief an Bersika zu schreiben.
Eigenartige Schauer ergriff seinen ganzen Körper, und er bekam eine Gänsehaut. Mit der ganzen Offenheit und Aufrichtigkeit seines Herzens schrieb er ihr, was sie ihm bedeute und wie glücklich sie ihn durch ihr letztes Gespräch gemacht hat. Die Torheit des Verliebtseins brachte immer heißere, überschwänglichere Worte zu Papier. Er hielt inne. War er zu weit gegangen? Wieder fühlte er sich durchrüttelt, der kalte Schweiß brach ihm aus. Er fühlte sich an die Stirn, sie war wärmer als sonst. Hastig schrieb er die letzten Zeilen, dass er sich sehr darauf freue, sie wiederzusehen und sie am Pfeffermarkt in acht Tagen um die zweite Mittagsstunde erwartet. Er rollte den Bogen ein, streifte ein seidenes Ringband darüber und gab ihn einem Sklaven, der im Auftrag der Stadt als Postboten in der Innenstadt eingesetzt war. Müde, fröstelnd legte er sich in seinen Mantel gehüllt zu seinen Kameraden in die wärmende Sonne. Doch ihm war es trotzdem kalt, und er dämmerte dumpf vor sich hin. Als er es nicht mehr aushielt, ging er in die Wachstube und meldete sich krank.
In einem Einzelzimmer wickelte er sich dick in Wolldecken ein und, nachdem man ihm einen heißen Tee gebracht hatte, fühlte er sich etwas besser. Die Kälte schlug in wohlige Hitze um. Während das Fieber von Stunde zu Stunde stieg, wälzte er sich unruhig auf seinem Lager. Als er dann schließlich doch eingeschlafen war, hatte er dennoch keine Ruhe. In der Nacht packten ihn die wildesten Träume. Ein Schimmer der Hoffnung, der Liebe in dem tiefen Abgrund der Krankheit, zog, wie bei einem Sog, Bersika mit hinein in den Hexentanz der Traumbilder. So wie das Fieber den Körper in seiner ganzen Glut erfasste, so wollte der Körper sie weitergeben, um Kühlung und Befriedigung zu erlangen: eine seltsame Mischung von Fieber und Liebesrausch. Die Bilder der Glückseligkeit, die er einst so klar gesehen hatte, erschienen wieder, nur jetzt peinlich verzerrt, gesteigert durch seine kranke, schmutzige Fantasie. Ungeheurer Ekel vor sich selbst führte ihn zurück in die Wirklichkeit. Er stürzte hinaus in die kühle Nacht, und erbrach sich.
Der Glaspalast
Dann warf er sich wieder auf sein Bett, und völlige Erschöpfung führte ihn in die ruhigeren Gefilde des Schlafes. Am Morgen aber stand er auf. Er musste sich bei Bersika entschuldigen. Er schlug den Mantel um die Schulter und sprang hinaus in die kalte Morgendämmerung. Sein Bart war nun schon zwei Tage alt, und in seinen Augen lag ein grimmig entschlossenes Leuchten.
„Bersika, Bersika, was habe ich dir getan!“, rief er laut in den menschenleeren Gassen. Er hatte den Eindruck, als liefe er selbst nicht mehr, nein, als jagten die Häuser im wahnwitzigen Tempo an ihm vorbei. Die wuchtige Stadtmauer raste auf ihn zu. Trotzig hob er die Stirn und mit Donnergetöse zerschellte sie an ihr, als hätten 20 Wurfmaschinen die Mauer auf einmal getroffen. Alles um ihn herum war mit einem Schlag wieder still, und grüne Matten erquickten seine Seele.
Vor allem aber erhob sich in märchenhafter Pracht ein gläserner Palast. Er war rund und labyrinthartig angelegt. Noch nie hatte Publius etwas von diesem Palast gehört oder gesehen. Er hatte sich auf einen Doppelschritt der ersten Glastür genähert und überlegte schon, wie er dort hineinkommen sollte, als die Tür wie von selbst sich öffnete. Er betrat einen Gang und schaute sich dabei immer verwunderter um. Die gläsernen Wände waren so geartet, dass er zwar stets nach draußen, aber niemals ins Innere des Palastes blicken konnte.
Wieder rief er, „Bersika, Bersika, ich muss dich sprechen!“ Keine Antwort. Nun begann er zu laufen, mitten hinein in das Glasgewirr. Eine große, gläserne Flügeltür öffnete sich mit ohrenbetäubendem Geklirr, die den Blick in einen riesenhaften Spiegelsaal freigab. Publius fiel auf die Knie, aber brachte kein Wort heraus. In der Mitte stand Bersika hoch aufgerichtet, ganz in Weiß gehüllt. Ein eiskalter Blick durchbohrte den jungen Römer.
Der Albtraum
Eine weiße Haube, die ihre blonden Haare ganz verdeckte, verhärtete noch ihre Gesichtszüge. Und hinter ihr und neben ihr stand ein ganzes Heer von Bersikas, alle den Blick feindlich auf ihn gerichtet. Dann erhob sich wie ein Chor Bersikas Stimme, und die Tausenden hinter und neben mir sprachen alle mit. Einzig durch ihre Monotonie und Leblosigkeit waren die Stimmen unvorstellbar grausam.
„Geh, Römer. Geh! Du Vernichter unserer Stadt, du Zerstörer unseres irdischen Glücks, verlass, unsere Totengruft. Wir wollen ruhen!“
Von panischer Angst gehetzt rannte er den Gang zurück, bis er bei der letzten umschließenden Glaswand angekommen war. Drei oder vier Mal war er schon um den Palast gejagt und hatte feststellen müssen, dass der Ausgang verschwunden war. Erschöpft blickte er sich um. Ein wilder Schrecken ließ ihn einen großen Sprung gegen die äußerste Glaswand tun. Ein Haufen verkohlter Leichen lag unter Schutt und brennenden Dachbalken begraben. Darüber lag in einer dichten Wolke der Pesthauch der totalen Vernichtung. Dies hielt seine geplagte Seele nicht länger aus. Mit hellem Geklirr zersprengte das Glas. Aus tausend Wunden blutend, lag Publius im Gras. Er war als Mensch zu ihr gekommen, sie hatte ihn als Römer empfangen. Das Blut floss stetig und ohne Rhythmus. Das Herz hörte auf zu schlagen. Der Palast begann sich im ganzen undurchdringlichen Nebel aufzulösen. Der Rasen verschwand. Und ihm war, als ob er von einer leichten Wolke davongetragen würde.
„Ich wollte dich nicht stören“, sagte die Sklavin in ihrem barbarisch klingenden Keltenlatein. „Als ich das Frühstück bringen wollte, hattest du noch geschlafen. Aber eine kräftige Hühnerbrühe wird das Wunder, das der Schlaf an dir getan hat, noch vergrößern. Du siehst wirklich wieder gesund aus.“
Damit stellte sie ihm ein roh geschnitztes Tablett aus Fichtenholz ans Bett, machte aber keine Anstalten, das Krankenzimmer zu verlassen.
Bersikas Brief
„Nun?“, fragte Publius, der sich tatsächlich besser fühlte.
„Ich soll dir noch etwas abgeben“, wandte sie sich geheimnisvoll an ihn und zog ein grünliches Blatt Papier aus einer ihrer taschenartigen Rockfalten. Hastig griff er danach und brach das gefaltete Papier auseinander, während die Magd sich schweigend mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen zurückzog. Kaum hatte er die ersten Zeilen gelesen, so machte sich auch schon Enttäuschung in ihm breit.
„Lieber Publius! Herzlichen Dank für deinen Brief, über den ich mich sehr gefreut habe, (den Brief als solchen) …“
Was sollte dieser Brief als solcher? Warum diese rätselhafte Einschränkung? Er verstand sie nicht. Dann schrieb sie kurz, was sie zuletzt getan hatte. Dass sie interessiert sei, die Brieffreundschaft weiter zu pflegen, klang gleichgültig. Dann kamen ohne Zusammenhang und scheinbar ohne Gefühle die Schlussworte.
„Die nächsten drei Wochen sind alle besetzt. Mit freundlichem Gruß! Bersika.“
„Wo sie doch genau weiß, dass ich bald abreise!“ begehrte Publius auf. Der ganze Brief schien ihm wie ein Korb mit süßen Kirschen. Aber ein Korb blieb ein Korb. Er ärgerte sich nun, dass er seine Gedanken und vor allem seine Zuneigung zu ihr so offen gestanden hatte. Er nannte sich einen Dummkopf, einen Fantasten. War es nicht immer bei ihm dasselbe Spiel. Immer wenn er glaubte, am Ziel zu sein, wurde ihm die Freude durch einen Rückschlag vergällt. Erst nach einem zweiten, heilsam tiefen Schlaf schwand allmählich sein Groll gegen Bersika, und er schrieb ihr freundlich, aber auch ein wenig reserviert zurück und teilte ihr seine Anschrift in Rom mit.
Trotz alledem war seine Stimmung nicht die beste. Drei Tage lang lag er jetzt schon auf seinem Krankenlager, und noch immer hatte keiner seiner wenigen Freunde unter den Soldaten ihn besucht. Die Einsamkeit nagte an seinem Herzen, düstere Gedanken stiegen in ihm auf, und er vermochte sich kaum gegen sie zu wehren. Da fiel ihm ein, dass er in Rom seinen Freund, Marcus, in ähnlicher Weise mal im Stich gelassen hatte. Das sollte ihm eine Lehre sein, und er beschloss, sich zu bessern. Am Nachmittag kamen sie endlich. Er machte ihnen keine Vorwürfe, da die Freude, sie wiederzusehen, doch größer war als sein Groll. Sie hatten ihm Wichtiges zu berichten.
Das Massaker
„Heute war die Schlusssitzung im Senat von Karthago“, hob Decimus anzusprechen.
„Naso hatte eine glänzende Rede geschwungen, die Berichte der numidischen Gesandten und die karthagischen Aussagen gegeneinander abgewogen und hatte Massinissa das Recht zugesprochen, die geforderte Entschädigungssumme zu kassieren und das umstrittene Gebiet einzunehmen und zu bewirtschaften. Außerdem sollten die Karthager die Kosten der Verhandlung im vollen Umfang der Kommission gleich mit nach Rom geben.
Wir standen draußen vor dem Rathaus, Publius, und konnten alles mit anhören. Du glaubst gar nicht, welch Sturm der Entrüstung sich im ältesten Rat erhob. Der Tumult war derartig, dass die Bewohner der nächsten Umgebung zusammenliefen und das Geschrei nur noch vermehrten. Da erhob sich Harso so von seinem Sitz. Du weißt, bei dem du am ersten Tag übernachtet hast. Jener sprach Worte der Mäßigung und Besinnung, aber keiner hörte ihn an. Da ertönte die Kommando-gewaltige Stimme Nasos und schaffte augenblicklich Ruhe.
„Wir warten auf eure Antwort“, rief er gebieterisch. Ein erneutes Gemurmel erhob sich in den Reihen der Senatoren. Dann sprach wieder Harso, der noch immer stand, „Um des lieben Friedens willen, wir nehmen an.“
Da erhoben sich die numidischen Gesandten, verbeugten sich mit dankbaren Gesten vor unserem Kommissionsleiter und verließen noch hochmütig um sich blickend das Rathaus. So etwas Aufgeblasenes ist mir bisher nicht begegnet. Du hättest sie mal sehen sollen, wie sie an uns vorbei stolzierten. Der Rathausplatz war dicht gedrängt von Menschen, die alle ihre Arbeit im Stich gelassen hatten und auf die fürchterliche Nachricht dorthin geeilt waren. Eisiges Schweigen empfing die Gesandten. Hasserfüllte Augen starrten sie an. Aber zögernd bildete sich eine schmale Gasse vor den Numidiern, die ihre Pferde in den in der Nähe befindlichen Stallungen erreichen wollten.
Sie waren etwa 50 Doppelschritte gegangen, als der Menschenhaufen sich nicht mehr weiter öffnen wollte. Wo sie auch hinblickten, überall waren sie von der Masse eingekeilt. Die Numidier forderten laut und unbeeindruckt Durchgang. Da erhob einer sogar drohend seinen Gesandtenstab gegen den nächsten der umstehenden Menschen.
Da erscholl plötzlich von hinten. „Schlagt sie doch tot, die Wüstenschweine.“
„Ja, schlagt sie tot“, ertönte es von allen Seiten, und dann begann ein furchtbares Getümmel. Die Hintersten stießen nach vorn, ob die Ersten es wollten oder nicht. Sie wurden gegen die Gesandten gedrängt. Als sich diese mit der Waffe wehrten, mussten die Leute, wenn sie nicht getötet werden wollten, die Gesandten daran hindern. Sie entrissen Ihnen die Waffen, warfen sie zu Boden, und dann sahen wir nichts mehr. Die entfesselte Masse trampelte über sie hinweg, und das Hassgebrüll war so groß, dass wir nichts von den Schmerzen- und Todesschreien vernehmen konnten.
Die Botschaft hatte sich schnell im Senat herumgesprochen, worauf die Karthager kreidebleich wurden. Fast, als hätte unser Kommissionsleiter dies vorausgesehen, sprach er so ruhig und überlegt seine Worte.
„Es ist ein Glück, dass wir noch leben. Macht dies mit dem römischen Konsul aus. Was uns betrifft, fahren wir noch diese Nacht ab, um im Senat über die Friedensliebe der Karthager zu berichten. Die Wachmannschaft soll uns draußen Platz schaffen.”
Wir hatten wenig zu tun. Die Leute ,wohl erschrocken über ihre Bluttat, zogen sich stumm in ihre Häuser zurück“, endete Decimus seinen Bericht.
Trauriger Abschied
Publius konnte es nicht fassen. Das durfte nicht die letzte Entscheidung sein. Sicherlich war die Bluttat des Pöbels furchtbar, aber der Hass gegen die Bedränger auch wieder verständlich. Aber ihm blieb wenig Zeit, zu überlegen. Seine Sachen mussten verpackt und aufs Schiff verladen werden. Seine beiden Freunde halfen ihm dabei.
Als der römische Segler aus dem Handelshafen hinaus navigierte, standen nur wenige Menschen am Kai. Keiner winkte. Publius sah Ihnen traurig nach. Welch furchtbare Wendung hatte die Verhandlung genommen. Er dachte an den freundlichen Empfang, den die Bewohner ihnen bereitet hatten. Nun war alles vorüber. Krieg wird es geben, Krieg! Noch schien alles so friedlich. Der Mord an den Gesandten war so unvorstellbar für Publius, so unwirklich, als wäre er nicht geschehen.
Ein Pfiff unterbrach ihn in seinen sorgenvollen Gedanken. Sie mussten sich versammeln; denn Naso hatte etwas anzusagen.
“Folgende Soldaten haben bei der Ankunft in Ostia an Bord zu bleiben. Soldat, Cornelius Aper, Soldat Quintus Poccus, Soldat Publius Fabricius … Diese Soldaten werden für 10 bis 14 Tage im Raum von Capua noch gebraucht. Entlaufene Sklaven beunruhigen die Bauern. Ich mache euch darauf aufmerksam, dass es Ehre und Auszeichnung … “
Publius war also noch nicht entlassen. Die Abendsonne tauchte ins karthagische Gebirge, dessen leuchtende Zacken allmählich im Meer versanken.
Ende von Kapitel 1
Kapitel II
Das Los der Händler und Bauern
Je mehr Millionäre der Geld- und Handelsstadt Rom entwuchsen, desto ärger stand es um Fabriken, Werkstätten und all die Einrichtungen, die den Menschen eines gesunden Staates Arbeit und Brot verschaffen. Die billigen Importwaren, meist kostbare Salben, Haarfärbemittel, Weine, Silber- und Goldgeräte und Tonvasen verdrängten jede heimische Industrie. Noch schlimmer war es um den lateinischen, einst freien Bauern bestellt. Das afrikanische und vor allem sizilianische Korn wurde dem römischen Pöbel zu Schleuderpreisen angeboten.
So gerieten die eigenen Bauern bald in ein verheerendes Zinsverhältnis der römischen Bankiers. Sie hielten sich so lange zäh, bis sie die fälligen Zinssätze nicht mehr bezahlen konnten, und zogen dann bettelarm in die Hauptstadt, um wenigstens vom ausländischen Korn leben zu können, vergrößerten aber noch mehr die Zahl der Besitzlosen. Die Geldhändler, die die verschuldeten Höfe übernahmen, fassten diese zu großen, weiten Flächen zusammen und übergaben sie einem Verwalter, der sie mit einer stetig anwachsenden Sklavenschaft bewirtschaftete. Eine ungeheure Zahl von schlachtreifen Rindern floss jährlich von diesen Gütern nach Rom und half, die Kassen der Geldaristokratie zu füllen.
Wachte früher aufmerksam das Auge des Gesetzes auf die Art, wie die Sklaven behandelt wurden, so waren sie nun außerhalb der Stadt, gewissermaßen dem Gesetz entzogen und der Willkür des Sklavenhalters ausgesetzt. So lebten sie elendig und wurden oft schlimmer behandelt als das Vieh. Obwohl ihnen hohe Bestrafung drohte, wagten viele, ihre Herren heimlich zu verlassen, sich zusammenzurotten und als Banden ihr Unwesen zu treiben. Oft bezahlten ihre ehemaligen Herren ihre allzu große Grausamkeit mit dem Tod. Dem römischen Staat, da er das Übel nicht bei der Wurzel packen konnte, blieb nichts anderes übrig, als gegen sie mit militärischer Gewalt vorzugehen.
Verirrt im Regen
Sturm und Regen peitschten die beiden Legionären ins Gesicht. Mit einem Schlag war es Herbst geworden. Unter dem schweren Regen zogen sich die Weiden voller Wasser, und das machte den beiden das Gehen schwer.
„Verdammte Scheiße! So ein Sauwetter!“, schimpfte Lucius.
„Ich glaube, du willst einmal Feldherr werden“, bemerkte Publius ironisch. „Da musst du bei solch einem Wetter noch träumen können. Ich für meinen Teil finde es einfach klasse, so gegen den Sturm anzulaufen und mit ihm sich messen zu dürfen.“
Lucius brummelte etwas, was Publius jedoch nicht verstand. Seit etwa vier Stunden hatten sie die Verbindung zur Truppe verloren und suchten jetzt in der schnell hereinbrechenden Dunkelheit ihr Lager. Die entlaufenen Sklaven interessierten sie schon lange nicht mehr, die in dieser Gegend noch vereinzelt herumlungerten und rechtschaffene Leute überfielen. Aber nichts war in diesem trüben Wettergrau zu erkennen. Manchmal stießen sie auf Rinderherden, die dicht zusammengedrängt auf den Wiesen kauerten.
„Ich glaub’, mein Muli priemt!“, rief Publius plötzlich begeistert aus. „Dort rechts hinter der Birkenreihe sehe ich Licht. Hoffentlich sind das keine Sklaven. Die werden uns nicht gerade freundlich empfangen!“
„Quatsch, es ist ein Gutshof. Das sieht doch ein Blinder ohne Krückstock!“, erwiderte Lucius.
Im Laufschritt eilten sie darauf zu. Es stellte sich heraus, dass er recht hatte. Ein großes Gehöft zeigte sich in seinen dunklen Umrissen. Publius schlug mit dem Knauf seines Kurzschwertes gegen das Tor. Mehrmals musste er das Klopfen wiederholen, bis von innen ein Schlürfen von Sandalen näher kam und die Tür sich endlich öffnete. Ein warmer Luftstrom wehte den völlig Durchnässten entgegen.
„Wer seid ihr und was wollt ihr?“, rief ihnen eine jugendliche Stimme entgegen.
„Verirrte Legionäre, die Obdach suchen.“ Als der Junge das erfahren hatte, lud er sie sofort ein, hereinzukommen und sich am Kamin aufzuwärmen. Das war die sogenannte gute Stube, in die sie traten. Ein großes Feuer flackerte und knisterte lustig im Backsteinkamin.
Auf dem römischen Gut
In der Mitte stand unverrückbar fest ein schwerer Tisch aus Eiche, nach welchem sich sechs Stühle in strenger Ordnung ausrichteten. Am Kamin, wo sich die Legionäre nun umkleideten, blickte stumm ein webstuhlartiges Gebilde in die lodernden Flammen. Außer einem Ahnenbild und der üblichen Penaten-Ecke zierte nichts das übergroße Gutszimmer. Antonius, der den Soldaten soeben frische Wollkleidung aus der Kleiderkammer gebracht hatte, saß auf dem Tisch und schien sich über die noch immer fröstelnden Nachtwanderer amüsieren zu wollen. Denn er lächelte verschmitzt und machte ein spitzbübisches Gesicht. Zwei Sklaven trugen das Essen auf und gaben durch Handzeichen zu verstehen, dass der Hausherr sogleich kommen werde, die Gäste zu begrüßen.
Es dauerte auch nicht allzu lange, als ein etwas beleibter, wohlwollend um sich blickender Mann den Raum betrat, seine Frau und seine Tochter im Gefolge, die auf den Namen Claudia hörte.
„Aha! Die Herren Legionäre! Wie viele habt ihr schon gefangen?“
„Bis jetzt noch keine, Herr Verwalter.“
„Seht ihr, hier gibt’s auch keine. Mir sind noch keine entlaufen. Ihr hättet euch südlicher halten sollen. Also seid herzlich willkommen, ihr Sklavenjäger, ihr!“
Alle mussten bei seinen Worten herzlich lachen. Auch sahen Publius und Lucius zu komisch aus in ihren ausgeliehenen Wollhosen. Man setzte sich um den Tisch, auf dem eine dampfende Suppe, eine Augenweide für durchgefrorene Seelen, sich den beiden darbot. Die Wärme, die ihre Körper nun von innen durchdrang, tat ihnen gut. Der Verwalter erkundigte sich nach der neuesten Entwicklung in Rom, während er die heiße Flüssigkeit in sich hinein schlürfte.
„Was für eine Entwicklung, fragte Publius“, den Sinn der Frage nicht ganz begreifend.
„Das kann er auch nicht wissen!“, mischte sich Lucius in seiner kritischen und ironischen Art ins Gespräch. „Er ist mehrere Wochen in Karthago gewesen.“
„In Karthago?“, rief Antonius eifrig dazwischen. „Oh, Pater, er muss uns davon berichten. Wie ist die Stimmung dort?“
„Stimmung?“, erwiderte Publius verwundert.
„Na, sei doch nicht so begriffsstutzig“, kritisierte Lucius. „Antonius meint, ob sie Krieg wollen.“
„Nein, Krieg möchten sie nicht.“
Der Verwalter räusperte sich und wartete ab, bis sich die Gemüter ein wenig beruhigt hatten, dann wandte er sich an Publius. „Stimmt es denn nicht, dass der karthagische Mob vor den Augen unserer Kommissare die numidischen Gesandten zerrissen hat? Stimmt das denn nicht? Du warst doch dabei, Publius.“
„Doch schon. Aber das hätte doch jeder getan. Die Karthager haben …” Er suchte Worte der Erklärung, fand sie jedoch nicht zugleich und schwieg.
Nach einer kurzen Pause begann der Verwalter. „Ich sehe die Lage so. Die Karthager wollen Krieg und haben ihn auch verdient. Kürzlich war ich in Rom, um ein paar Mastrinder den staatlichen Untersuchungsbehörden vorzuführen und im Wert schätzen zu lassen. Da ließ ich mir natürlich die kernige Rede des wackeren Cato nicht entgehen. Dabei erfuhr ich auch die letzten Ereignisse in Karthago. Obwohl der alte Sittenprediger seinen Sermon zum x-ten Male mit den Worten ‘Ceterum censeo Cartaginem esse delendam’ beendete, hat es diesmal sichtlich Eindruck auf die empörten Zuhörer gemacht. Hier und dort fordert man laut vom Senat die Kriegserklärung.“
Über Krieg und Frieden
„Aber was hat Rom davon, dass es die Stadt vernichtet”, fiel Publius ihm ins Wort. ‘Karthago ist doch militärisch vollkommen unbedeutend; sie hat alle Hände voll zu tun, um mit dem draufgängerischen Massinissa fertig zu werden. Wir geben vor, Angst vor der Macht Karthagos zu haben, als könnte ein neuer Hannibal Rom mit Elefanten belagern. Wir geben es nur vor. Denn der Geldaristokratie läuft schon heute das Wasser im Munde zusammen bei dem bloßen Gedanken, die Reichtümer der fleißigen Kaufleute in ihren immer hungrig aufgesperrten Rachen zu bekommen. Und erst einmal die Gutsbesitzer, die keine Bauern mehr sind, sondern Spekulanten, die die meiste Zeit in ihren römischen Lustschlössern verbringen, blicken mit Neid und böswilliger Sorge, die billigen Getreidemengen aus dem gesegneten Afrika ins Italien strömen. Wurde früher Krieg geführt, so ging es um Bestand und Sicherheit des Vaterlandes. Heute dreht sich alles nur ums Geld! Ich habe mit Männern der Friedenspartei drüben gesprochen, die offiziell auf ihre politische Unabhängigkeit verzichten und unter dem Patronat Roms ein freies Handelsleben führen möchten. Aber wir möchten nicht die Unterwerfung, sondern die totale Vernichtung!“
„Du sprichst nicht wie ein Römer, Publius“, schaltete sich der Hausvater ein.
Zornig flackerte es in Publius’ Augen. „Einst nahm unser Erfolg völlig allein den Grundsatz in Anspruch, ‘Ius facere Romanum est’. (Gerecht zu handeln ist römisch.) Da ich noch heute nach diesem Grundsatz wenigstens versuche zu leben, bin ich also kein Römer mehr.“
Seine Worte hatten Eindruck hinterlassen. Der Verwalter senkte nachdenklich den Kopf, sein Kamerad unterließ seine ironischen Bemerkungen, und Claudia nickte ihm zustimmend und aufmunternd zu.
„Deine Ansicht ist mir neu, Publius. Ich möchte jedoch, dass du die berechtigte Furcht vieler nicht ohne Überlegung als Neid auslegst. Cato war selbst 160 drüben und hatte in die vollen Zeughäuser geschaut. Er zählte über 200.000 volle Rüstungen und 300 schwere Sturmgeschütze. Willst du etwa behaupten, dass die Punier alljährlich mit diesen Geräten ihr Getreide einholen?“
Unwillig stimmte Publius diesem Einwand zu. Doch war er überzeugt, dass es noch ein stärkeres Gegenargument gab, aber er kam nicht darauf. Und es entstand eine Pause, wonach man beschloss, sich zur Ruhe zu begeben. Da keine Schlafkammer für die Legionäre vorhanden war, schliefen die beiden im Stroh der angrenzenden Scheune.
Das Würfelspiel
„Ist dir aufgefallen, welch hübsches Mädchen die Claudia ist?“
„Nein“, antwortete Publius verwundert. „Ich habe sie nicht näher betrachtet …“
Was kümmert sie mich auch, ich hab’ ja Bersika. Den letzten Satz hat er nicht laut gesprochen, denn er fürchtet sich vor den gehässigen Bemerkungen seines Kameraden. Bald waren sie eingeschlafen. Der Sturmwind, der sich wütend an der stabilen Scheune brach, konnte ihnen nichts anhaben.
Die strahlende Morgensonne schien die regnerische Nacht mit ihrer ganzen Farbenpracht verspotten zu wollen. Gleich nach dem Frühstück, das ihnen ein zufrieden aussehender Sklave dargereicht hatte, machten sie sich daran, ihre Sachen instand zu setzen. Die Kurzschwerter mussten von Schmutz und Rost befreit und hinterher leicht eingeölt werden. Dann bürsteten sie ihre Kampfjacken aus, die in der Zwischenzeit getrocknet waren. Gegen Mittag waren sie damit fertig und vertrieben sich die Zeit, indem sie Kieselsteine in den kleinen See warfen, wo der Verwalter seine Karpfen züchtete. Sie beobachteten mit forschem Blick, wie die hochgeschleuderten Steine mit steigender Geschwindigkeit aufs Wasser hinabstürzten.
„Da muss doch ein Naturgesetz mitspielen, dass sie immer schneller herunterfallen“, brummte Lucius.
„Die Anziehungskraft der Erde spielt bestimmt keine unbedeutende Rolle in einem solchen Gesetz“, fügte Publius nach kurzem Überlegen hinzu. „Und dann bestimmt auch noch die Zeit“.
„Da ist sie wieder!“
„Was denn, die Zeit etwa?“
„Na Mensch, Claudia, natürlich. Sie geht am Brunnen, um Wasser zu holen. Wie hübsch sie in ihrem schlichten Kleid aussieht.“
„Du hast recht, sie sieht wirklich sehr nett aus. Wenn ich an die bemalten Gestalten in Rom denke, kommt mir das Essen von der letzten Marsfeier noch hoch. Sie schaut uns freundlich zu!“ Die Legionäre lächelten zurück. Bersika war vergessen. „Weißt du was? Wir laden sie heute Abend zum Spielen ein!“
„Wie willst du denn das schaffen?“, fragte Lucius über den plötzlichen Eifer seines Kameraden verdutzt.
„Du hast doch deine Würfel bei dir und kennst die Regeln zu vielen Spielen! Wir machen uns an den Bruder Antonius ran und laden ihn zu einer Partie Syrakus ein. Du wirst schon sehen, das liebe Schwesterlein wird sicherlich mitkommen, wenn sie nicht gerade auf den Kopf gefallen ist“. Sie hatten ja so viel Zeit, die beiden Soldaten. Da sie nicht wussten, wo ihre Einheit lagerte, blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu warten. Gesagt, getan. Nach dem Abendessen, das wieder vorzüglich mundete, brachte Lucius, der im Reden gewandter war, seine Bitte Antonius vor. Wie sie erwartet hatten, stimmte er auch gleich freudig zu. Da saßen sie nun draußen auf der großen Steinplatte, die als Terrasse diente, im milden Abendlicht.
In der Tat stellte sich mit Antonius auch Claudia ein, deren Wangen im roten Schein der Sonne noch herrlicher und natürlicher wirkten.
„Da wir jetzt schon zu viert sind“, und dabei lächelte Publius verschmitzt über seine gelungene List. „Spielen wir lieber Messina. Du kennst doch die Regeln, Lucius. Erklär sie bitte den beiden einmal.”
„Also, es spielen immer zwei gegen zwei. Welche Partei die meisten Würfelaugen zusammen bekommt, hat gewonnen. Die ersten zwei Partner beginnen und würfeln jeder für sich, dann vergleicht man die Ergebnisse. Solche Würfel, die sich ergänzen, also eins und sechs, zwei und fünf, drei und vier, dürfen wieder gewürfelt werden. Die anderen scheiden aus. Die erste Partei macht Schluss, wenn sie keine Würfel mehr besitzt. Die Zahl der erreichten Runden wird notiert. Dann ist die Gegenpartei an der Reihe.“
Publius und Claudia Gewinnen das Würfelspiel
Während Lucius noch die Regeln erklärte, waren sich Claudia und Publius schon einig geworden. Sie beide würden ein Team bilden. So machte der andere ein recht dummes Gesicht, als er sah, dass er mit Antonius zusammen spielen musste. Es wurde ein lustiges Spiel. Das Team von Antonius verlor jedes Spiel, aber da er so herzlich über sein Pech lachen konnte, wollte das Würfeln kein Ende nehmen.
Das Team von Publius war an der Reihe. Claudia machte das Anspiel und warf zwei, vier und fünf.
„Fünf, drei und zwei“, beschwor Publius die Würfel. Eins, sechs, vier. Ein schadenfrohes Gelächter erhob sich auf der Gegenseite.
„Verloren, verloren! Neues Spiel!“
„Vier und vier machen immer noch Pasch“, machte Publius sein Recht auf eine Wiederholung des Wurfes ist geltend. Stolz legte er Claudia einen Würfel in ihre zierliche Hand. Diesmal zeigte sich eine Sechs auf der glatten Steinplatte, und Publius fügte eine Zweite hinzu. Ein Würfel war zurückgewonnen. So schafften die beiden fünfzehn Runden und strahlten über ihren großen Erfolg. Die Wachstafel hielt das Ergebnis fest, und das Spiel begann von Neuem. Als die Sonne hinter dem kapuanischen Bergland versunken war, stellten sie das lustige Spiel ein, da sie die Punktzahl vom Würfel nicht mehr ablesen konnten.
Sie plauderten aber noch eine Weile über ihre Erlebnisse. Antonius wusste so überzeugend, seinen griechischen Hauslehrer nachzuahmen, dass oft ein helles Lachen in die milde Herbstluft schallte und schließlich der Hausvater heraustrat und die jugendliche Gesellschaft zu Bett mahnte. Als sie sich lange die Hände geschüttelt hatten, rief Antonius, „Und morgen fahren wir mit den Booten den See hinaus“, was mit großem Freudengeschrei begrüßt wurde. Eine neue Freundschaft war geschlossen.
Über Götter und Atome
Die beiden Legionäre schliefen lang und fest, sodass sie erst das Poltern ans Scheunentor weckte. Es war der Verwalter.
„Wacht auf ihr alten Schlafmützen, ich habe gute Botschaft für euch! Ein Knecht von mir hat euer Lager gefunden. Seltsame Zustände müssen dort herrschen. Der Ärmste wäre um ein Haar verprügelt worden, wenn ich ihn nicht zur Vorsicht ein Begleitschreiben mitgegeben hätte. Also das Lager liegt etwa drei, vier Meilen von hier jenseits der kleinen Ortschaft Parvilla. Man hatte euch noch gar nicht vermisst. Wenn ihr heute Nachmittag um die neunte Stunde loszieht, so schafft ihr es noch vor Sonnenuntergang. Hört ihr mich überhaupt, ihr Faultiere?“
„Ja, ja!“, brummten die beiden gedehnt. Es passte ihm gar nicht, dass sie das schöne Faulenzerleben wieder aufgeben mussten. Auch dachte jeder für sich an Claudia, die sie lieb gewonnen hatten. Sie müssten sie auch verlassen. Wie weit lag dieses Capua von Rom! Sie würden sie nie wieder sehen …
Diesmal hatte Publius Pech, denn als er zum verabredeten Zeitpunkt zum See kam, hockte Lucius bereits mit bei Claudia im Boot und zeigte dem Säumigen ein schadenfrohes Gesicht. Zum Glück lud ihn Antonius auch schon zu sich ins Boot, sodass er erst gar nicht dazu kam, sich darüber zu ärgern und Lucius um sein Glück zu beneiden. In der Tat sollte dieses vermeintliche Pech sich zu seinem Vorteil kehren. Antonius schlug vor, bis zur Hälfte am linken Waldufer entlang zu paddeln, den See dann zu durchqueren und auf der anderen Seite zurückzukehren. Der Vorschlag wurde angenommen. Mit kräftigen Schlägen setzten sich Publius und Antonius an die Spitze. Wenn sie zum Nachmittag zurück sein wollten, mussten sie sich ein wenig beeilen. Als sie eine kleine Landzunge umrundet hatten, war von den anderen beiden nichts mehr zu sehen. So sehr hatten sie sich angestrengt.
„Ich merkte gestern“, fing Publius zögernd anzusprechen, „dass du allerhand in der Technik loshast. Woher hast du denn all dein Wissen?“
„Soweit her ist es mit meinem Wissen auch wieder nicht. Wenn ich bedenke, welche Möglichkeiten du in Rom hast, dann wage ich fast nicht zu erwähnen, dass ich nur ein paar Schriften von Archimedes, Demokrit und Epikur gelesen habe. Den Rest meiner kümmerlichen Kenntnisse habe ich von meinem griechischen Hauslehrer”, schloss er in seiner bescheidenen Art.
„Demokrit, Epikur, fabelhaft! Teilst du denn ihre längst widerlegten Anschauungen!”? Fragte Publius leicht herausfordernd. In seiner freien Zeit hatte er sich viel mit diesen griechischen Wissenschaftlern und Philosophen beschäftigt und konnte es kaum glauben, dass es noch jemanden gab, der die längst in Vergessenheit geratenen Weisen studierte.
„Nicht alle“, antwortete Antonius, indem er die Paddel einzog. „Aber die Atomlehre Demokrits halte ich doch für sehr wahrscheinlich, wenn sie auch Aristoteles zehnmal widerlegt hat. Nach Demokrit und auch nach Epikur setzt sich ein Körper aus winzig kleinen, nicht mehr teilbaren Atomen zusammen. Die Verbindungen der Atome ändern sich ständig, d.h. ein Körper kann zerfallen, und es mag etwas Neues entstehen. Jedoch bleiben die Atome in ihrer Form immer erhalten und können auch aus unserer Welt nicht spurlos verschwinden.“
„Pass auf, Antonius, jetzt habe ich eine Frage!“ fiel ihm Publius ins Wort. Das Boot schaukelte ruhig auf und ab. „Epikur stellt irgendwo in seinen Schriften eine kühne Behauptung auf. Unser Körper besteht ebenfalls aus Atomen, was mir noch einleuchten will. Aber sagte dann Epikur weiter, unsere Seele besteht auch aus solchen Atomen, die den Atomen des Körpers eingelegt und eng verhaftet sind. Zerfällt beim Tode unser Körper, muss zwangsläufig auch die Seele zerfallen. Und nun meine Frage. Bricht damit nicht unsere ganze Vorstellung von den Göttern und ihrer Welt völlig zusammen?“
„Nicht unbedingt. Wir müssen ihre Welt nur tiefer sehen und den simplen Volksglauben abstreifen, der sich die Götter als wütende Ungeheuer vorstellt, die mit Feuer und Schwert in die Geschicke der Menschen eingreifen. Natürlich kann ich dir da auch nicht weiterhelfen. Ich lehne die Götter nicht ab. Aber ich weiß nicht, wo in unserer Welt ich sie einordnen soll. Vielleicht triffst du in Rom mal einen Philosophen dieser Richtung, der dir Antwort geben kann.”
Publius Kritisiert Roms Kulturzerfall
War es nun eine kleine List oder war es wahre Hilfsbereitschaft, Publius bot sich an, Antonius zu schreiben, wenn er genügend darüber erfahren habe.
„Wirklich?“ fragte jener erstaunt.
„Nein, unwirklich!“, scherzte Publius.
„Ach du! Also, ich wäre dir sehr dankbar. Meinst du, du könntest mir auch ein paar Schriften Epikurs besorgen. Ich denke da besonders an den Brief an Pythokles, der sehr interessant sein soll. Capua ist gegen Rom in jeder Beziehung ein Kaff. Solche Schriften sind in der ganzen Stadt nicht aufzutreiben. In der Literatur findest du nur moderne Übersetzungen von griechischen Romanen. Und wann kommt mein Vater mal nach Rom? Du glaubst gar nicht, wie ich dich beneide!“
„Warum? Pah, da brauchst du mich nicht zu beneiden. Verkommen ist die Stadt“, erwiderte Publius, „nicht ein Fünkchen dieses alten Geistes ist in ihr lebendig, der die alten Griechen beseelte. Alles befindet sich auf der Jagd nach dem Vergnügen. Du gehst am Stock, wenn du eins von diesen plumpen Schauspielen gesehen hast, die in Rom angeboten werden.“
„Na, du übertreibst wohl ein wenig. Die alten Tragödien in recht guter Übersetzung kommen doch noch zum Zuge.”
„Bis jetzt, ja, aber sie werden sich nicht mehr lange halten!“ Publius bemerkte das Boot mit Claudia und Lucius, das langsam sie aufholte. Er bereute es gar nicht, mit Antonius gefahren zu sein. Im Gegenteil! Denn hatte er erst mal Verbindung zu ihm, so konnte er auf irgendeine Weise auch mit Claudia anknüpfen.
„Hallo, wo habt ihr euch denn so lange herumgetrieben. Wir dachten schon, ihr seid zu den Fischen gegangen, nicht wahr, Antonius.“
„Wir haben uns eben mehr Zeit gelassen und uns ein wenig unterhalten.“
„Lucius konnte mir viel von Rom erzählen“, schallte die helle Mädchenstimme über die ruhige Wasserfläche. Sie beschlossen, bis nach Hause nebeneinander herzufahren, um ein wenig zu viert plaudern zu können. Die Mittagssonne schickte ihr gleißendes Licht in die fröhliche Gesellschaft. Claudia sah reizend aus in ihrem bunten Kleid. Wieder war Publius entzückt über die Schönheit, die von ihrem schlichten und bescheidenen Wesen ausging. Sie strahlte in ihrer unbefangenen Fröhlichkeit, die keine Sorgen und Probleme kannte, eine Ruhe aus, die Publius wie ein Magnet anzog. Bei ihr fand er alles, was er suchte und was ihm fehlte. Natürlich war es hier nicht der Ort, um ihr das zu sagen. Auch hätte er mit ihr allein sein mögen, um ihr das alles zu sagen. So wusste sie vorerst nichts von seinen Gedanken und Gefühlen.
Publius, der Introvertierte
Der Mensch ist für den ein Nichts, wenn er seine Gedanken nicht mitzuteilen vermag. Während Claudia, Lucius und Antonius ein angeregtes Gespräch begannen, zog sich Publius in sich zurück und antwortete nur noch methodisch, wie er sich zu seinem eigenen Schaden angewöhnt hatte, wenn er allein sein wollte. Dann, bei einem späteren Zeitpunkt, ärgerte er sich wieder, dass er das Glück des Augenblicks, die Gegenwart, nicht ausgeschöpft hatte. Er wusste ganz genau, dass er nur sicher auftreten könne, wenn er mit beiden Beinen in der Wirklichkeit stand. Wie nah und verständnisvoll Claudia ihm entgegenkommen könnte, ahnte er noch nicht.
Knirschend bohrten sich die Spitzen der Boote in den Sand. Es war recht schwierig, von den wackeligen Brettern aufs feste Land zu kommen. Lucius und Publius holten sich in ihrer vollkommenen Unerfahrenheit nasse Füße, was ein schadenfrohes Gelächter auslöste. Lucius wäre auch beinahe ins Wasser der Länge nach hineingefallen, wenn ihm Publius nicht schnell die Hand gereicht hätte, an der sich an Land zog.
Der Verwalter hatte schon ungeduldig auf die vier ‘Ausreißer’ gewartet, denn es war bereits weit über Mittag. Jedoch kam er erst gar nicht zum Schimpfen, da die beiden Soldaten sofort auf ihn zutraten und sich herzlich für das Gastrecht bedankten, das sie bei ihm genossen hatten.
„Es freut mich, dass es euch bei mir gefallen hat und meine Kinder ein wenig Abwechslung bekommen haben. Aber wollt ihr bei uns nicht mehr zu Mittag speisen, dass ihr euch jetzt schon bedankt!“, sagte der Verwalter halb vorwurfsvoll, der aber die List der beiden wohl durchschaut hatte.
„Nein, nein, das wollten wir nicht“, beteuerten sie. Gemeinsam gingen sie die kleine Anhöhe hinauf. Der lecker bereitete Schweinebraten dampfte schon verlockend auf dem Tisch, als sie das Wohnzimmer betraten, das die Legionäre vom Tag ihrer Ankunft kannten.
Abschied und Aufbruch
Die Stunde des Abschieds rückte näher. Die jungen Leute hatten sich auf dem Rasen gleich in der Nähe des Sees Decken ausgebreitet und ließen sich von der milden Herbstsonne wärmen. Ein Gespräch wollte jedoch nicht mehr recht zustande kommen. Jeder hing seinen Gedanken nach und bedauerte, dass ihre Begegnung nicht länger sein konnte.
„Wie alt bist du eigentlich, Claudia?“, brach schließlich Lucius das Schweigen. Im Stillen war Publius über die plumpe Frage empört, und er warf jenem einen tadelnden Blick zu, den jener jedoch zu übersehen schien.
Aber Claudia ging auf die Frage ein und bat sie, „Na, schätzt doch mal!“ Publius schaute ihr voll ins Gesicht und kam auf etwa 16 Jahre, sprach es jedoch nicht aus. Lucius dagegen hatte in seiner gefühllosen Art schon eine passende Antwort bereit.
„Also allerhöchstens 15!“ Sein Kamerad biss sich vor Wut auf die Lippen. Claudia zeigte jedoch ein unerschüttertes Gesicht, obwohl ein leichter Vorwurf in ihrer Gegenfrage mitschwang.
„Wieso?“ Wie ein begossener Pudel kam sich jetzt Lucius vor, und er wusste darauf nichts zu antworten. Es entstand eine Pause, die auf allen vieren sehr lastete.
Wie um sich davon zu befreien, erhob sich Publius und sagte, „Es wird Zeit, dass wir uns umziehen, sonst kommen wir noch zu spät. Los, Lucius, wir müssen wieder rein in unseren Käfig!“ Und zu den beiden Geschwistern, die noch auf der Decke lagen, „Wir sehen uns gleich noch?“
„Natürlich, wollen wir mal sehen, wie schnell ihr wieder hier seid. Ich werfe Steine ins Wasser, und Claudia wird sie zählen.” Da lachten sie wieder, und die zwei Legionäre stürzten zur Scheune, wo ihre Rüstung fein säuberlich aufbewahrt war. Im vollen Glanz ihres blinkenden Geräts eilten sie ins Gutshaus, wo sie dem freundlichen Ehepaar nochmals für die Bewirtung Dank sagten. Dann waren sie auch schon wieder unten am Wasser.
„Hundertsechsundzwanzig, hundertsiebenundzwanzig, …”, zählte Claudia.
„Vergießen wir nicht lange Tränen“, rief Antonius. „Wir machen es kurz und schmerzlos. Also, mein lieber Publius“, indem er ihm die Hand in die seine legte, „denk an die Epikur Schrift.“
„Ich werde sie nicht vergessen“, sagte er und reichte dann seine Rechte Claudia. Zwei fröhliche Augen blickten ihn an. Ja, ich werde sie nicht vergessen, dachte Publius, sagte aber nichts. Er hoffte, dass sie seinen Blick verstehen würde. Was ist schon ein Blick! Alles, und doch ein Nichts. Lange winkten sie den Legionären nach, bis sie in dem schattigen Olivenhain verschwunden waren, der sich in Richtung Parvilla erstreckte.
Ewige Schönheit der Natur
Es wurde ein schöner Spaziergang. Wenn auch die Rüstung ein wenig drückte, hielten sie doch ihre Augen offen für die Herbstfarben, die überall bunt auf sie einwirkten. Die Natur hatte ihr eigenes Gesetz für Schönheit und brauchte sich nicht nach den zahlreichen Stilen der Zeit zu richten, um immer wieder neu beeindruckend zu können. In ihr lag etwas Absolutes, das keiner Änderung bedurfte und das doch jeden Tag ein neues Kleid anzog. Links von ihnen gab eine Lichtung den Blick zum See frei. Entzückt blieben die Legionäre für einen kurzen Augenblick stehen. Es schien ihnen, als ob das Wasser dem tiefen Blau des wolkenlosen Himmels einen Farbton hinzumischte und so sich noch leuchtender und klarer in die Herbstlandschaft stellte, als die ewige Welt des Sols über ihn. Grau-braun verwelktes Schilf fasste wie ein Rahmen die allzu grelle Fläche lindernd ein, während das blutige Rot, das sich anschließenden Buchenwald nicht duldete, dass eine düstere Stimmung durch das Schilf aufkam. Es schmiegte sich dem Wind mit graziösen Bewegungen an.
Ein Polster von Moos und Gras sorgte, dass das Grün aus dem unermesslichen Farbtopf der Natur nicht zu kurz kam. Bisweilen lockerte eine dunkle Tanne die gleichförmige Helligkeit auf. Sie wusste, das Auge durch ihre zackigen Umrisse auf sich zu lenken. Damit hatte die Pracht noch längst kein Ende. Eine sich über alles erhebende Felswand zeigte sich in der Sonne im strahlenden Weiß. Scharf und deutlich, wie ein mahnend ausgestreckter Finger, zeichneten sie sich gegen den Himmel ab.
Publius glaubte zu ahnen, was ihn an dem Naturgemälde so faszinierte. Ganz plötzlich hatte er das scheinbar Unbegreifliche gefasst und hätte es laut ausgesprochen, wenn er allein gewesen wäre. Die einzigartige Schönheit ist in keinem bestimmten Stil einer Kunstepoche zu finden, sondern allein draußen in der Natur, die jeden Tag dem ernsthaften Beschauer seine Vollkommenheit beweist. Vollkommenheit ist Schönheit! Das leuchtet jedem ein, wer sich vor Augen hält, dass nur die Natur das geniale Meisterstück fertigbringt, jedes Teil von ihr als Gegensatz zum anderen für sich gelten zu lassen und dennoch alles zu einem harmonischen Ganzen zu verbinden. Krasse Gegensätze, völlige Verschiedenheit und dennoch vollendete Harmonie sind die goldenen Schlüssel zur Schönheit.
„Claudia ist ein hübsches Mädchen, nicht wahr, Publius?“, störte Lucius seine Gedanken.
„Ja, hübsch ist sie“, sagte er nur. Sie setzten schweigsam ihren Weg ins Lager fort.
Ankunft beim Römischen Lager
Die Abteilung von 500 Mann hatte in einer Waldlichtung unweit von Parvilla ihr Lager aufgeschlagen. Publius und Lucius brauchten im Dorf niemanden zu fragen. Der Wind trug Fetzen von Gesang und Lautenspiel an ihr Ohr und beschleunigte ihren Schritt. Auch hätten sie wohl im Dorf keinen Menschen angetroffen, da Groß und Klein neugierig das Lager umringten. Viele mochten auch mit dem Gedanken hergekommen sein, einen saftigen Bissen von gebratenen Schweinen abzubekommen, die an langen Spießen über dem Feuer brutzelten.
„Die feiern ja wie nach einer großen Feldschlacht!“, rief Publius erstaunt aus.
„Weißt du was, Publius, wir melden uns erst gar nicht beim Vorgesetzten zurück! Was sollen wir auch dessen gute Laune stören! Vielleicht haben die noch gar nicht gemerkt, dass wir fehlen.“
Zaudernd willigte Publius ein. Es war ihm nicht ganz wohl bei dem Gedanken, die militärische Ordnung nicht einzuhalten. Auch befürchtete er, sich bei seinen Kameraden lächerlich zu machen, wenn er sich zurückmeldete, wahrend Führer und Mannschaften beim fröhlichen Bechern und Schmausen beisammensaßen. Er verlor Lucius schnell aus den Augen und setzte sich scheu an ein Feuer. Er hoffte, dass sein Kamerad recht hatte und man sie noch nicht vermisst hatte.
Gedanken am Lagerfeuer
Starren Blicks schaute Publius in die wärmende Flamme, als ob sie ihm die Fragen, die ihn bedrängten, beantworten könnten. Warum konnte er sich nicht so geben wie seine Kameraden? Warum nicht so froh und ungezwungen sein, nicht so herzlich und unbekümmert lachen wie jene? Versuchte er es, so riet bald eine innere Stimme: Halt, halt, lass ab von dem sinnlosen Unterfangen. So kannst du nicht fröhlich sein! Dann ließ er ab und zog sich zurück.
Die Kameraden hielten ihn dann für einen Spielverderber. In der Tat war ihm Lachen um des Lachens willen und Fröhlichkeit um jeden Preis zu wider. Solch eine Freude hatte keinen Gegenstand, und wenn es einen gab, so war er schal und leer.
Doch auch darin scheiterte Publius, nur seiner inneren Stimme zu gehorchen und ihr strenges Gesetz auf alle Lebensbereiche auszudehnen. Seine Unzulänglichkeit und wieder die Angst, sich lächerlich zu machen, wurden nur selten von ihrer Gewalt niedergedrückt.
So litt Publius unter der grausamen Vorstellung, dass er nichts tauge und für nichts in der Welt zu gebrauchen sei. Denn weder konnte er so sein wie seine Kameraden noch, wie die innere Stimme ihm gebot. Es fehlte ihm nicht an Entschlusskraft, sich für das eine oder andere zu entscheiden. Entschieden hatte er sich schon längst. Doch sein Wille war zu schwach und sein Geist noch zu träge, um das Gerümpel von alten Vorstellungen von sich wegzuräumen, die sich fast bis zur Verwirrung aufgehäuft hatten und die guten Grundlagen verdeckten, die sein Vater gelegt hatte.
Philosophische Betrachtungen am Lagerfeuer
Auch die militärische Disziplin im Lager und im Felde, die geschaffen wurde, um das Leben vieler in der Gemeinschaft zu regeln, half ihm wenig. Anfangs hatte er geglaubt, seinen Kameraden auf der Weise näherzukommen, dass er sich streng an sie hielt. Aber das Gegenteil war der Fall. Die Soldaten beugten sich nicht aus Einsicht der militärischen Ordnung, sondern aus Furcht vor Strafe. Fühlten sie sich ohne Aufsicht, so galt sie nicht mehr. Publius musste bald erkennen: Wenn nicht guter Wille und rechte Sitte die Triebfeder allen Handelns sind, so ist das beste Gesetz fruchtlos. Er hat seinen Kameraden einmal gesagt, und ihr betretenes Schweigen bewies ihm genügend, dass er recht hatte. Aber er war ihnen deswegen um nichts näher gekommen. So war er wohl von der Richtigkeit seines Denkens überzeugt und dachte so weiter, hörte jedoch auf, entsprechend zu handeln, wie ein Redner, der spürt, dass ihn keiner anhört. Da es aber sein gequältes Herz nicht zuließ, mit seinen Fragen allein zu sein, gleichzeitig jedoch sich gegen solche Menschen abkapselte, die sie nicht ernst nahmen, vergrub er sich mehr und mehr in Büchern und Schriften.
Wegen seines großen Eifers ward er die erste Zeit viel im Gespräch, wie es jedem ergeht, der sich bewusst von der Masse absetzt. Die einen nannten ihn Professor, die anderen wieder Doktorchen. Merkwürdigerweise machte Publius sich nichts daraus und lächelte freundlich, wenn man ihn so ansprach. Ohne dass er es selbst merkte, nahm er eine innere Haltung an, nachdem er sich eine Weile mit Philosophie und Wissenschaft beschäftigt hatte, eine Haltung, die nicht nur sein Denken beeinflusste, sondern auch sein Tun. Fehlte ihm auch noch oft der Mut, im entschiedenen Moment das Richtige zu sagen oder zu tun, so waren doch die Grundpfeiler in ihn gelegt, die sein späteres Leben bestimmen sollten. Aber ein Werk bedarf der Liebe und Bestätigung, und noch immer war Publius auf der Suche nach einem Menschen, der ihn verstand oder wenigstens versuchte, ihn zu verstehen.
Die Nacht war schon weit fortgeschritten, als es langsam ruhiger im Lager wurde und der Gesang an vielen Feuern verstummte. Nur selten kam noch ein Murmeln oder ein kurzes, gedämpftes Gelächter an Publius’ Ohr. Fast einen Monat lang hatten sie die aufrührerischen Sklaven gejagt. Nun schliefen auch die letzten wieder unter dem Dach ihrer Herren. Nur die Rädelsführer hatte man gebunden und zur Bestrafung nach Rom geschickt. Nach dem Appell am nächsten Morgen würden sie entlassen sein. Der Gedanke, dass er den nächsten Tag schon bei seinen Eltern sein könnte, machte ihn ganz glücklich. Nur in einen Mantel gehüllt, vom Feuer genügend gewärmt, schlief er zufrieden ein und träumte von den bunten Tonvasen, die sein Vater formte und er bemalen durfte.
Kapitel III
Römischer Trauerzug
Publius schritt als Letzter durch die Porta Capena, wo er sein Gerät ablegen musste. Die Via Appia war hier sorgfältig gepflastert, und es war eine Wohltat für müde Füße, darauf zu gehen. Er überquerte mehrere Kanäle, die diesen Stadtteil mit Wasser versorgten. Doch traf er keinen Menschen auf dieser sonst so lebhaften Straße an. Als er einen Greis danach fragte, der sich an der Hauswand gelehnt in der trüben Nachmittagssonne wärmte, sagte der nur, Senator Marcellus Pius sei gestorben. Der Waibel hätte alle Bürger seines Bezirks aufgefordert, dem Verstorbenen das letzte Geleit zu geben. Publius beeilte sich, um noch schnell in den elften Bezirk hinüberzurücken, wo er mit seiner hellen Kleidung nicht so auffallen würde.
Aber es war schon zu spät. Als er sich der Grenzstraße auf 50 Schritte genähert hatte, erreichte gerade die Spitze des Trauerzuges die Kreuzung. Publius wagte es nicht, jetzt noch über die Straße zu springen. Schnell trat er in eine Seitenstraße, wo er still den seltsam anmutenden Zug beobachten konnte.
Vorweg zogen die Flötenspieler, die mit ihren Instrumenten im wirbelnden Rhythmus und mit abrupt schwankender Lautstärke Klagelieder spielten. Ihnen folgten die Klageweiber, die mit ihren heiseren Schreien und wilden Zuckungen jedem Zuschauer Angst einflößten und eine Ahnung vom Schreck des Todes vermittelten. Dann kamen in langer Reihe die Vorfahren des Verstorbenen. Vornehme Männer mussten sie spielen. Und sie trugen mit Stolz und Würde die Wachsmasken der Toten. Eine alte Familie, dachte Publius bei sich, ihr Stamm reicht bestimmt bis in die Zeit der Könige zurück. Sie alle trugen Gewänder, die sie zu ihrer Zeit zu tragen pflegten, Kaufleute, Senatoren, Zensoren, Lektoren, ja sogar Konsuln waren dabei. Aber einen ebenso ehrenvollen Platz nahmen in der Ahnenkette mehrere Männer im Feldgewand des Bauern ein. Jeder hatte zur Mehrung der Familienehre beigetragen, und in diesem Trauerzug zeugten sie von ihrer Unsterblichkeit. Sie waren alle zu Wagen. Ja, vier prächtige Rosse zogen das Gespann. Fast mochte man den soeben Verstorbenen vergessen, wenn man den reichen Schmuck der Ahnen betrachtete, den goldbestickten Mantel des Triumphators, den purpurnen des Zensors und den purpur gestickten des einst regierenden Konsuls.
Hinter ihnen schloss sich der Prachtwagen des toten Senators an, der in seinem ganzen Schmuck seiner Amtstracht auf einer purpurfarbigen Decke aufgebahrt lag. Links und rechts von ihm, deutlich sichtbar für jeden Betrachter, lagen seine Auszeichnungen und die Waffen der erlegten Feinde. Der Sohn des Verstorbenen führte den nun folgenden Zug der trauernden Familienmitglieder an. Publius wusste, dass diesem die schwierige Aufgabe zugefallen war, die Erinnerung an seine Ahnen später vor versammelter Menge wachzurufen und durch sich selbst jene zu Worte kommen zu lassen. Sie waren alle ganz im Schwarz gehüllt, und Publius zog sich noch weiter in den Hauswinkel zurück, um das Bild der Trauer und Feierlichkeit ja nicht durch seine weiße Toga zu stören. Eine halbe Stunde war vergangen, als der letzte Trauernde an ihm vorbeigezogen war. Er wartete noch eine kleine Weile, dann sprang er über die Straße, ohne sich noch einmal umzusehen.
Endlich zu Hause
Als er den Zirkus Maximus hinter sich gebracht hatte, sah er auch schon den schimmernden blauen Bogen des Tibers durch die Häuserlücken schimmern. Im schnellen Lauf erreichte er den Fluss und ging nun gemessener am Ufer entlang, um wieder zu Atem zu kommen und sein stark klopfendes Herz zu beruhigen. Zwei Tiber Brücken musste er noch zu seiner Linken berühren, dann erblickte er die Porta Flumentana, in deren Nähe sich die Arbeitsstätte und Wohnung seiner Eltern befanden. Schöne Erinnerungen an eine glückliche Kindheit wurden in ihm wach. Eine kleine Weile blieb er sinnend vor der Schwelle stehen und lauschte dem Summen der Töpferscheiben, dann trat er hurtig in die Werkstätte seines Vaters.
Zwei Briefe
Ein seltsamer Zufall wollte es, dass Publius heute zwei Briefe bekam. Eine rosarote Papyrusrolle aus Karthago und ein sorgfältig zusammengefalteter Briefbogen mit einem Veilchen geprägten Siegel aus Capua. Das wäre nicht so bedeutsam gewesen, wenn nicht in beiden Briefen, ein Medaillon mit dem Abbild der beiden Mädchen beigefügt gewesen wäre. Seit Publius einen geschickten Briefwechsel mit Antonius geführt hatte, der trotz des erfrischenden wissenschaftlichen Austausches das Ziel hatte, die Korrespondenz auf Claudia zu verlagern.
Noch immer stand ihm dieses zarte, natürlich wirkende Mädchen in seinem duftigen Herbstkleid vor Augen. Es entwickelte sich eine liebe Freundschaft zwischen den beiden. Er spürte von einem Brief zum anderen, was Claudia ihm zu geben hatte, ihm, dem innerlich bislang nicht gefestigten, jungen Mann, der einer liebevollen, verständnisvollen Anteilnahme bedurfte. Sein ganzes Herz hatte sich nach dem ersten oder zweiten Brief entfalten können. Alle Probleme, die auf ihn zukamen, lösten sich wie von selbst, indem er sie nur aufs Papier schrieb. Wäre Claudia nicht darauf eingegangen, so hätte ihn bald das Gefühl des Alleinseins aufs Neue beschlichen. Er hätte ihr nicht mehr so viel anvertraut, und Angst und Not wären bei ihm wieder eingekehrt.
Aber nein, das tat sie nicht. Sie ging auf alle seine Fragen ein und gab ihm da und dort gute Ratschläge, wenn er auch oft selbst schon darauf gekommen war. Aber so hatte er doch das Bewusstsein, dass jemand seine Gefühle teilte. Je mehr er sich ihr verdankte, desto mehr fühlte er sich mit ihr verbunden. Von da an, so paradox es auch klingen mag, begann er selbstständig zu werden, und beschränkte sich darauf, in jedem Brief ihr deutlicher zu machen, dass er sie im Grunde liebte.
Das Herz Muss Entscheiden
Auf der anderen Seite stand Bersika, die unnahbar Entfernte, nicht nur räumlich, sondern auch dem Herzen nach. Hatte seine Liebe stark nachgelassen, als er den trockenen und unpersönlichen Inhalt ihres ersten Briefes gelesen hatte, so hat es sich auch in der Folgezeit nichts daran geändert. Sie schrieben sich oft und regelmäßig. Aber Publius ließ das bittere Gefühl nicht los, dass sie sich nichts zu sagen hatten. Und hat er auch die erste Zeit versucht, ihr persönlich näherzukommen, indem er auch ihr seine geheimsten Gedanken, wenn auch nicht direkt, so doch zwischen den Zeilen erkennen ließ, so verharrte die Punierin ständig in der gleichen, zermürbenden Kälte und scheinbaren Gleichgültigkeit. Sie erzählte viel von ihrer Tätigkeit als Hilfskraft im Tamith Tempel und vom kaufmännischen Tun ihres Vaters. Von sich selbst, wie sie dachte, wie sie fühlte, schrieb sie nie. In diesem Verhältnis fehlten die Bindeglieder, das Gefühl der Zusammengehörigkeit, so schien es wenigstens Publius.
Seine Liebe zu ihr erlosch, umso mehr, je mehr Claudia ihn an sich zog. Da saß er nun, die beiden Medaillen in den Händen, die er alsbald wieder auf die Eichentischplatte legte und abwechselnd, mit wehen Ziehen in der Brust, stumm betrachtete. Beide Briefe hätten ihn nicht erschüttert. Er hatte Bersikas Brief kurz gelesen. Sie brachte meistens nicht mehr als 20 Zeilen zuwege. Dann hätte er sich mit Eifer über die liebevollen Zeilen Claudia gebeugt und sie Satz für Satz in sich aufgenommen. Oft hatte er solche Briefe gleich mehrmals gelesen und sie dann glücklich in seinem extra dafür eingerichteten Fach sorgfältig verwahrt. Er saß in seiner Stube, und die kühle Luft, die trotz der stärker werdenden Frühjahrssonne die Wohnräume noch beherrschte, tat ihm wohl.
Publius in der Zwickmühle
Die fein in Kupfer gearbeiteten Medaillons blickten ihn herausfordernd an, als ob er sich entscheiden müsste. Durch feine Nadelstiche hoben sich deutlich die mädchenhaften Konturen auf dem glänzenden Metall ab. In Bersikas Augen glaubte Publius denselben geheimnisvollen Schein zu erkennen, der ihn in Karthago so sehr bezaubert hatte. Und Claudia zeigte sich ihm in ihrer ganzen Anmut jugendlicher Schönheit. Er wusste ganz genau, als er wieder zu Bersika herabsah, dass sie ihm zum ersten Mal ihre wahre Zuneigung mit dem kleinen Geschenk gezeigt hatte. Er erkannte nun, dass die Punierin früher schon eine deutlichere Sprache gesprochen hätte, wenn sie die lateinische Sprache besser beherrscht hätte. Die Zurückhaltung war nichts anderes, als die Unfähigkeit, sich auszudrücken. Da sie sich durch eine falsche Ausdrucksweise nicht lächerlich machen wollte, hatte sie lieber geschwiegen.
Auf der rechten Seite der Tischkante lag Claudia. Von ihr schien eine größere Kraft auszugehen. Er war darüber verzweifelt, dass dies alles am selben Tag geschehen musste, und er verfluchte das Schicksal. Haben die beiden Briefe nicht vollkommen verschiedene Wege zurücklegen müssen? Oft lagerten Postsendungen aus den Überseegebieten tagelang im Hafen von Ostia, während der Inlandsverkehr sich meistens flott abwickelte. Er grübelte vor sich hin, dunkle Gedanken stiegen in ihm auf. Und als er für einen kurzen Augenblick die Augen auf Bersika richtete, fassten ihn mit aller Gewalt die süßen Erinnerungen von Karthago, und er riss das kupferne Medaillon an sich, das er jedoch zugleich wieder auf dem Tisch klirren ließ. Dann wandte er seinen Kopf zur Seite: Worte, liebe, freundliche Worte wurden in ihm wach.
Ein Verständnisvoller Vater
Vater hatte von der Werkstatt laut den Gong ertönen lassen, um seinen Sohn darauf hinzuweisen, dass die Mittagspause zu Ende war. Wütend über sich selbst, raffte Publius die Briefe und die beiden Bilder zusammen und steckte sie schnell in sein Brieffach. Dann stieg er, ganz in Gedanken versunken, die Treppe zur Werkstatt hinab, wo die Töpferscheiben, von fleißigen Sklavenhänden in steter Bewegung gehalten, ihr gleich tönendes Lied summten.
Heute irritierten ihn die gleichförmigen Drehungen, und Vater war nicht mit seiner Arbeit zufrieden. Publius spürte den kritischen Blick seines Vaters auf sich ruhen. War er früher stolz, dass man ihn bei seinen geschickten Handbewegungen beobachtete, so fühlte er sich jetzt wie gelähmt und verformte den weichen Ton zum zweiten Mal zu einem hässlichen Klumpen. Sonst hatte ihm das immer große Freude bereitet, mit der geballten Faust in den Ton zu schlagen und mit der rechten Hand ihn vorbeigleiten zu lassen und immer wieder anzufeuchten, bis schließlich die gewünschte Vasenform daraus entstand. Nun war er schon beim dritten Versuch und auch diesmal wollte es ihm nicht gelingen. Er stöhnte tief, noch nie hatte der Blick seines Vaters eine solch große Wirkung in ihm hervorgerufen wie heute. Die Wölbung, die er gerade aus dem Ton herausgedrückt hatte, machte er durch eine ungeschickte Handbewegung wieder zunichte.
„Vater, ich kann nicht mehr, heute nicht!“ presste er mühsam aus sich heraus. „Bitte entschuldige mich, und darf ich gehen?“
Der Vater kam langsam zu ihm herüber und schaute ihm sorgenvoll ins Gesicht. Denn er hatte schon seit der ersten Minute gemerkt, dass mit Publius etwas nicht stimmte.
„Du bist doch nicht etwa krank?“
„Nein, Vater, das ist es nicht. Ich hab’ halt mal einen schlechten Tag,” antwortete er in gezwungenem, gleichgültigem Ton.
„Geh schon, ich verstehe”, dabei hob er bedeutungsvoll zwei Finger in die Höhe,”aber mach mir keine Dummheiten!“
„Nein, nein, das mache ich schon nicht!“, und er war zugleich aus der summenden Werkstatt verschwunden. Er wunderte sich ein wenig, dass der sonst so strenge Vater ihn so schnell entlassen hatte. Aber wahrscheinlich hatte er selbst die beiden Briefe ihm auf den Tisch gelegt und konnte sich vielleicht vorstellen, wie es ihm zumute war. Vater hatte ihn nie falsch behandelt, und so war es auch heute.
Der Kampf des Herzens
Dankbar schritt Publius hinaus und eilte geradewegs zum Tiber, wo er sich einen schattigen Platz aussuchte. Mit schwerem Herzen ließ er sich nieder. Denn er wusste im Voraus, er würde zu keinem Ergebnis kommen. Beide waren zu sehr mit ihm verflochten, als dass er sich von einer selbstständig lösen konnte. Sein Herz, auf das Bersika und Claudia gleichermaßen Anspruch erhoben, schien ihm zum Schlachtfeld zu werden, auf dem die beiden erbarmungslos, grausam und zäh ihren ersten und letzten Kampf austragen würden.
Von Karthago her stürzten süße Erinnerungen, gepanzert mit einer von Liebe durchdrungenen Fantasie, geradewegs auf die siegesgewisse Rivalin aus Capua. Letztere beherrschte in mehrfacher Stärke, einen großen Teil des Schlachtfeldes. Der Angriff wurde von der alles überragenden Schönheit und der noch frischen Erinnerungen abgeschlagen. Die mächtige Geschlossenheit der Gegnerin wurde in bloßen, nichtigen Gedankenfetzen an eine längst verflossene gute Zeit zersprengt.
Dann rückten in festen, geschlossenen Linien die harten Tatsachen der Punischen Armee vor, die der Boden dumpf im gleichen Schritt der Anrückenden wiedergab. Wie die Stacheln den Igel schützten, so war die erste, darum tief empfundene Liebe zu Bersika, das Fußvolk, verheißungsvolle Gespräche in Karthago. Furchtbar klirrten die Waffen beim Zusammenprall der Feinde, und bald wurde das Schlachtfeld mit Toten und Verwundeten bedeckt. Jeder Tote, ein Verlust für den Boden, auf dem bislang beide hinreichend Platz gefunden hatten.
Nach dem ersten Reitergefecht hatte Capua bereits triumphiert und mit einem solchen zweiten Ansturm nicht mehr gerechnet. Schon begannen Schönheit und Anmut, psychologische und im Kampf Mann gegen Mann, schwache Kräfte, zu wanken. Der schöne Mund mit seinem aufmunternden Lächeln, das herrliche Haar, die Augen verblassten. Schon ertönten die Siegesfanfaren der karthagischen Armee und ließen die hoffnungsfrohen Kräfte mutiger gegen den Feind rücken. Ohne Mitleid hieb jeder an seinem Platz auf den verhassten Gegner aus Capua ein. Niemand merkte im Blutrausch, dass sie, bereits eng zusammengedrängt, die Mitte des Schlachtfeldes beherrschten.
Der Kampf im Herzen von Publius
Ein buntes Herbstkleid, scherzhafte Worte, Stunden heiterer Würfelspiele flohen im heillosen Durcheinander nach allen Richtungen und so schnell, dass die Punischen Kräfte in ihrer schweren Rüstung erschöpft von der Verfolgung abließen und ihre Waffen ablegten. Ihres Sieges sicher lockerten sie ihre Reihen und streckten sich auf dem Boden nieder, um sich ein wenig von dem hitzigen Gefecht auszuruhen.
Ein müdes Lächeln spielte um Publius Mund. Der Ruf eines Tiber Schiffers ließ den Kopf des jungen Römers hochfahren. Ein mit hohen Marmorblöcken schwer beladener Kahn schwamm träge im glitzernden Wasser. Ein Zucken erstickte das Lächeln, und gequält beugte sich Publius über seine angezogenen Knie.
Capua hatte sich aus ihrer Verwirrung erholt und merkte mit Erstaunen, dass der Feind es versäumte, sie völlig zu vernichten. Wertvolle Hilfskräfte brachte die Armee wieder auf eine ansehnliche Stärke. Und da Karthago sich weiterhin nicht rührte, begann man vorsichtig mit einer sorgfältig geplanten Einkreisung. Hinter der punischen Armee baute sich liebevolle Anteilnahme für alles, was Publius bewegte, auf. An den Flanken verharrten Mitgefühl und Verständnis für alle seine Sorgen und Nöten in eisiger Geduld auf den Angriffsbefehl, und schließlich schloss das Kontingent der hilfreichen Ratschläge und bekennender Liebe den tödlichen Ring um die Armee in der Mitte. Fast gleichzeitig brachen die Streitkräfte auf, um im raschen Stoß dem Gegner den Garaus zu machen. Im panischen Schrecken griff dieser zu den Waffen und versuchte vergebens, die alte Ordnung wieder in die Linien zu bekommen. Den sicheren Tod vor Augen wehrten sich die Armen wie zum äußersten gereizte Wölfe, um, da die Schlacht verloren, wenigstens die Ehre zu retten. Auf beiden Seiten bedeckten gleichermaßen die Leichen das blutbesudelte Schlachtfeld. Nur der Übermacht ihrer Truppen hatte es Claudia zu verdanken, dass sie den Sieg an ihren Fahnen heften konnte.
Die Entscheidung war gefallen! Doch machte sie Publius glücklich? War es nicht vielmehr ein Pyrrhussieg, den Claudia in ihm errungen hatte? Er weinte, und es dauerte recht lange, bis er sich erhob. Innerlich starr und stumpf ging auf Vaters Werkstätte zu.
Der Abschiedsbrief
Publius sendet Bersika Gruß und Heil! Alles Streben muss ein Ziel haben, und wo es keines geben kann, da muss man sein Streben einstellen. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll! Du bist mir zu fern, Karthago ist zu weit. Wenn ich da wohnte, wäre die Sache anders. Wir hätten uns dann bestimmt öfter einmal gesehen und gewiss näher kennengelernt.
Ich habe lange überlegt, wie das weitergehen soll. Kenne ich dich doch kaum! Wir leben aneinander vorbei, und bloße Brieffreundschaft, was ist denn das schon? Wohin soll sie führen? Liebe Bersika, sei mir bitte nicht böse, wenn ich, statt dir nicht zu antworten, solche Dinge erzähle. Aber ich sehe wirklich keinen Sinn mehr, dass wir uns noch weiterschreiben! Nimm es leicht, so wie ich versuche, es leicht zu nehmen.
Lasst uns also Schluss machen! Denn was kann ein Mädchen das Handwerks- und Soldatenleben interessieren, wenn nicht den Soldaten selbst? Und was kann einen jungen Mann das Leben im Tempel interessieren, wenn nicht das Mädchen selbst? Was unerreichbar ist, soll auch keinen Platz in den Träumen haben. Ich glaubte, das Briefschreiben würde von selbst aufhören, so wie ein Strom allmählich in der Wüste versickert. Viele machen es so, um sich nicht weh zu tun. Aber ich fühle, dass ich dir gegenüber unehrlich bin, wenn ich das endlose Hin und Her weiter treiben würde.
Deshalb schreibe ich dir jetzt die Wahrheit. Im Augenblick tut es mir leid, aber ich hoffe, dass ich genauso wie du dies alles in ein oder zwei Wochen vergessen haben werde. Nochmals sei mir bitte nicht böse.
Es grüßt dich herzlich und für immer, dein Publius.
Scham und Bitterkeit stiegen in ihm auf, als er die letzten Zeilen aufs Papier gebracht hatte. Hatte er nicht von der Notwendigkeit aufrichtiger Ehrlichkeit gesprochen und doch nicht den Mut gehabt, den wahren Grund ihr einzugestehen? Er spürte, dass er dieses Schweigen als eine Schuld ständig mit sich herumtragen würde. Dennoch rollte er in Gedanken versunken das Papier zusammen und drückte das rote Siegel darauf.
Chapter IV
Der Palatin Hügel
Er entfernte sie schnell aus der schreienden Menge. Ein paar Gassen weiter war das Gejohle zu einem fernen Summen herabgesunken. Und als Publius endlich die Via Appia gefunden hatte, da genoss wieder die Stille, die ihn wie ein kühler Trunk erfrischte. Wenn des Abends die Stadttore geschlossen wurden und das Treiben der Geschäftsleute auf den Straßen langsam abebbte, dann konnte man keine stillere Straße finden als die Via Appia. Und wem bedeutete das mehr als gerade unserem Publius, der trotz hereinbrechen der Dunkelheit ohne Hast die Straße hinauf wandelte.
Der Mond lugte zwischen Wolken verstohlen hindurch, die sich um ihn wie zu einem Reigen versammeln hatten. Sein Licht warf einen gespenstigen Schein über die Neustadt und konnte das Dunkel im dicht mit Gestrüpp bewachsenen Palatin nicht durchdringen.
Publius hatte sich eigentlich vorgenommen, diesen Abend früh zu Bett zu gehen. Denn er fürchtete sich vor der Müdigkeit, die ihn in den heißen Mittagsstunden überfiel. Aber der heilige Berg zu seiner Linken lockte ihn. Denn stieg man ihn weit genug empor, so hatte man einen herrlichen Ausblick auf die Stadt und den Venustempel, der durch seine erhabene Größe auch noch auf diese Entfernung Ehrfurcht einflößte. Publius erinnerte sich eines Pfades, der sich von der Via Appia in langen Windungen den Berg hinaufschlängelte und er schaute nun angestrengter in die Büsche hinein, um den Weg nicht zu verfehlen.
Freund Marcus
Eben hatte er den Pfad entdeckt, als er aus der Richtung, von der er gekommen war, helles Klappern von Sandalen vernahm. Er zögerte, aber wandte sich schließlich um. Einen Augenblick später schüttelte ihm ein junger Mann beide Hände. Es war sein alter Freund Markus, den er so gleich erkannte.
Dieser überfiel ihn mit einem Redeschwall, sodass Publius überhaupt nicht zu Wort kam und jenen nicht nach seinem plötzlichen Woher fragen konnte.
„Publius, Publius, was hast du nur so lange in der Fremde getrieben? Wirst du nun immer in Rom bleiben? Ich hoffe sehr! Ich habe dich sehr vermisst. Ich sah dich vorhin gehen, als das Geschrei am größten war. Ich merkte, dass dich die neuen griechischen Theaterstücke auch nicht angesprochen hatten, und folgte dir langsam im Gedränge. Leider verlor ich dich zunächst, weil ich vermutete, du würdest den direkten Weg Richtung Tiber nach Hause einschlagen. Aber jetzt habe ich dich doch noch getroffen. Jedoch, wie geht es dir?” unterbrach er sich, als er sich bewusst wurde, dass sein Freund noch nichts gesagt hatte.
Marcus spürte, dass er Publius gestört haben musste, und war darum bekümmert. Still standen die beiden sich gegenüber am Pfad zum Palatin Hügel. Publius war verwirrt. Er war Markus eine Erklärung schuldig, aber er sträubte sich dagegen. Er hatte sich in Karthago unter seinen Kameraden angewöhnt, seine Gedanken für sich zu behalten. Er sagte deshalb nur, um das lästige Schweigen zu brechen.
„Schön, dass ich dich wieder sehe. Mich hat das Geschrei des Pöbels aufgeregt, und ich wählte diesen ungewöhnlichen Heimgang, um mich ein wenig zu beruhigen.“ Er stockte, machte dann seinem Freund den Vorschlag, gemeinsam zu dieser späten Stunde über den Palatin zu steigen. Obwohl Markus solches Ansinnen recht merkwürdig fand, stimmte er zu.
Der Spaziergang
In weiten Schleifen führte der breit ausgetretene Weg den Berg hinauf. Als sie ein gutes Stück des Weges geschafft hatten, und die Pinien nicht mehr so dicht standen, brauchten sie dem steinigen Aufstieg keine Aufmerksamkeit zu schenken, weil der Mond die Landschaft ringsum erhellte.
„Es ist vieles anders geworden, seit ich das letzte Mal hier war. Ich glaube, selbst du bist mir ein wenig fremd geworden oder ich dir. Ich weiß es nicht”, sprach Publius zusammenhanglos und fast melancholisch.
„Das darfst du nicht sagen, ich kenne dich zu gut. Du meinst, ich könnte dich nicht verstehen. Aber ich weiß genau, was dich bedrückt. Damals drückte es uns gemeinsam. Nur verstehe ich es leichter zu ertragen. Es ist die trostlose Welt, die je mehr ihren goldenen Schimmer verliert, desto älter wir werden.“
Markus hatte seinem Freund genau aus der Seele gesprochen. Die Wand, die Publius unwillkürlich zur Abwehr gegen alles, was von außen kam, hatte Markus’ geschickte freundschaftliche Rede eingerissen.
Publius erleichtert sein Herz
„Oh, wie recht du hast!“ Publius sprach nun flüssiger wie immer, wenn ihm wirklich einer zuhörte. Denn die seit Monaten in seinem Inneren aufgestaute Flut von Gedanken, Ängsten, Hoffnung und Nöten floss mit seiner Rede heraus und erleichterte sein Herz.
„Mein Vater lehrte mich, die Ahnen zu ehren und die Götter zu fürchten. Ehre und Tugend besaßen die einen und regten mich durch ihr Vorbild an, ihnen gleichzutun. Macht und Gerechtigkeit lagen in der Hand der Götter, und ich gewöhnte mich daran, ihren Geboten zu gehorchen.“ Da Markus ihn nicht unterbrach, fuhr er nach kurzer Pause fort.
„So wuchs ich zu Hause auf. Doch dann kam der Tag, an dem ich nicht mehr die leitende Hand meines Vaters an meiner Seite haben sollte und ich mein junges Lebensschifflein allein durch den Sturm des Lebens segeln musste. Ich spürte alles gegen mich gerichtet und fühlte mich zu schwach, gegen die wütenden Gewalten von Bosheit, Hass und Neid länger anzurennen und zerbrach. Alles, was mein Vater in mir mühevoll zusammengefügt hatte, war zerschlagen. In der Flucht vor dieser Welt suchte ich meine einzige Rettung, und so floh ich immer wieder aus dem Lärm in die Stille und Einsamkeit, um dort das Verlorene zu suchen und wieder zusammenzufügen. Ich fühle mich jetzt schon wieder stärker und wage mich öfter in den tosenden Lebensstrom, der uns alle, uns alle zu verschlingen droht. Oh, Freund, es gab eine Zeit, da hätte ich selbst dich verstoßen, aus Furcht, du könntest als Freund noch mehr vernichten als meine Feinde. Verzeih darum, dass ich dich anfangs so unfreundlich empfing.”
„Schon gut“, brummte Markus gutmütig. Und wies seinen Freund auf das herrliche Bild, das ihnen Rom im Mondschein bot.
Der Niedergang alter Sitten und Bräuche
Sie hatten nun fast den Berg erklommen und setzten sich ein wenig erschöpft auf eine Steintreppe, die zu einem verfallenen Lustschloss eines der letzten Könige führte. Man sagte, der Geist dieses Königs hause noch in den Ruinen und überwache argwöhnisch seinen kargen Besitz.
Es war eine milde Nacht. In der Ferne loderten die Feuer der Mauerwachen, während es von dort zur Stadt immer dunkler wurde. Hier und da flackerten Öllampen durch die Fenster der Bürgerhäuser. Aber was die Aufmerksamkeit der beiden erregte, war nicht das Feuer an der Mauer und auch nicht die friedlich da liegende Stadt, sondern der Venustempel zu ihren Füßen. Bizarr hoben sich die Marmorsäulen gegen den nachtblauen Himmel ab. Das ewige Feuer, von Vestalinnen mit frommem Eifer behütet, konnten sie nicht sehen. Aber für Publius und Marcus war, als ob sie am heiligen Feuer ständen und ihr Gemüt durch dessen Kraft erwärmt würde.
Publius seufze, „Wie lange werden die Menschen sich noch dort versammeln und die alten Bräuche pflegen? Woran sollen wir, junge Menschen, uns halten, wenn unsere Väter, den Volksglauben verachten und über Bord werfen! Oh, diese Griechen mit ihrem alles zersetzenden Einfluss! Bald glaube ich, dass wir gründlicher vom Geist der Hellenen besiegt worden sind als jene in der großen Schlacht bei Pydna. Sieh, die griechischen Schauspieler zersetzen das Volk, halten es gleichermaßen von der Arbeit und den Göttern ab. Ihre Sekten lehren, dass die Macht der Götter gering sei, andere leugnen sogar ihre Existenz. Gierig greift das Volk die Lehren auf und saugt sie in sich auf. Und selbst die Polizei kann es nicht verhindern, dass ihre Anhänger immer mehr zunehmen und immer weniger Menschen am Weihopfer teilnehmen.“
Der Alte Weise
Marcus hatte seinen Freund ausreden lassen und sagte auch jetzt nichts, weil er merkte, dass noch etwas Wichtiges kommen musste, was sein Freund bis jetzt nicht ausgesprochen hatte.
“Markus, ich muss dir nun gestehen, dass ich selbst an der Macht der Götter zu zweifeln beginne. Müssten sie nicht mit einem Feuerregen dazwischentreten und die Frevler vernichten, wenn sie wirklich unmittelbar in unser Leben eingreifen können?”
Hinter den beiden jungen Römern räusperte sich jemand. Erschreckt wandten die beiden sich um. Fünf Stufen, die zerfallene Steintreppe hinauf im Schatten eines Olivenbaums. saß ein alter Mann, den sie vorher nicht bemerkt hatten und der ihrem ganzen Gespräch ohne Absicht gelauscht hatte. Der Alte trug einen schlohweißen Vollbart und war tief in einen braunen Mantel gehüllt. Er räusperte sich noch einmal und kam die Stufen zu Ihnen herabgestiegen. Er entschuldigte sich, dass er ihr Gespräch mitgehört habe, und bat sie, sofern Ihnen nur der Rat eines Alten etwas bedeute, ihn für ein Weilchen anzuhören. Jetzt erst merken die beiden, dass der alte, mindestens 80 Jahre alt sein musste. Im Mondlicht, das sich hinter aufziehenden Wolken langsam verfinsterte, sahen sie sein graues Haar silbern aufleuchten, und die vielen Falten im Gesicht waren so hart, als ob sie ein gemeißelt wären.
Der alte Weise stellt sich vor.
„Ich habe noch Hannibal Söldnerheer als 17-jähriger Jüngling vor den Toren Roms gesehen. Ich habe in den mazedonischen Kriegen gefochten und beschließe nun meinen Lebensabend in den Ruinen eines tarquinischen Lustschlosses, wo ich mir notdürftig eine Hütte zum Schlafen eingerichtet habe. Tagsüber suche ich mir Beeren, um das Brot, das uns die Republik schenkt, nicht so trocken herunterwürgen zu müssen.
Früher hatte der Staat die alten Kriegsveteranen ehrenvoller versorgt. Wohl ist die Kriegsbeute unter den Soldaten großzügiger verteilt worden als in vergangener Zeit. Aber unsere Kompanie verlor auf der Überfahrt nach Brundisium im Sturm ihre gesamte zugeteilte Löhnung und Beute und rettete nichts als ihr Leben.
Für euch jedoch ist das alles, was ich bis jetzt erzählt habe, nicht bedeutsam. Aber was ich nach Paullus’s Sieg über König Perseus erlebt habe, als ich bei einem griechischen Weisen in Athen einquartiert war, dürfte für euch, die ihr auf der Suche nach Wahrheit seid, von größtem Interesse sein.
Dieser Mann gehörte zu den wenigen Griechenlands, die die alten Weisen gelesen und auch noch verstanden haben. Er führte einen vergeblichen Kampf gegen die aufklärerischen, seichten Bestrebungen seines Landes. Ebenso vergeblich versuchte er, seinen Landsleuten ihren alten, echten Nationalgeist einzuhauchen. Und er war es, der mir eines Abends seine Vorstellung über die Welt und ihre Herkunft verriet. Was ich da erfuhr, schien weniger seiner überaus großen Weisheit zu entstammen, als vielmehr einer göttlichen Eingebung, auf die er stolz sein durfte.“
Er machte eine kurze Pause, wie um noch einmal seine Gedanken zu ordnen, die er den jungen Männern auseinandersetzen wollte. Der Mond trat nun ganz hinter eine dunkle Wolkenbank. Das heilige Feuer weit unten im Tempel flackerte in dunkelroten Widerschein auf den schneeweißen Marmorstufen.
Die Schöpfungsgeschichte des griechischen Weisen
Wie durch den ergreifende Anblick des ewigen Feuers, das durch die plötzliche Dunkelheit dem fernen Beschauer zu Teil wurde, angeregt begann der Alte wieder anzusprechen, und Markus und Publius hörten ihm aufmerksam zu.
“So fing der Weise an. Am Anfang gab es nichts, was wir uns als greifbar vorstellen können. Nur der ewige Gott füllte mit seinen Geist die unendliche Leere. Denn von einem Gott können wir zu Beginn der Welt nur sprechen. In diesem alles umfassenden Geist steckte eine ungeheure Kraft und der Wille zu bilden und zu schaffen. Wir können uns heute noch nicht vorstellen, dass sich aus einer bloßen Ansammlung von Energie sich etwas stoffliches bilden kann. Aber glaub mir, es wird die Zeit kommen, da werden Wissenschaftler beweisen, dass dies möglich ist. Der weise Grieche sprach immer wieder von der Bedeutung des Lichtes und seiner angeblichen Geschwindigkeit, was ich jedoch nicht verstand.
Die göttliche Energie ballte sich also zusammen mit der Absicht, eine Welt zu schaffen. Denn, so drückte sich der Weise aus, Gott war des Alleinseins müde. Es entstanden ungeheuere Nebelwolken, die sich zu greifbaren Stoffen allmählich verdichteten und um ihre Achsen zu rotieren begannen. Die so entstandene Materie teilte sich in viele kleine Welten auf, die sich wiederum in viele tausend Sonnensysteme zersplitterten. All dies geschah durch die unvorstellbare Rotationskraft, während in allen Welten noch der glühende Atem Gottes hauchte. Dann begann vielerorts die Erkaltung. Auch unsere Erde ist vor vielen Millionen Jahren aus einer glühenden Kugel zu unserer Heimat geworden. Damit war der Prozess noch lange nicht beendet. Die Masseteilchen verdichteten sich wieder, langsam und unaufhörlich, andere blieben zurück. So kommt es, dass wir Menschen eine solche Vielfalt von Gestein, Erde und Metall haben, dass wir ganze Bibliotheken bräuchten, um sie einzeln aufzuführen und zu beschreiben.”
Die Krönung der Schöpfung
Der Alte saß auf der Steintreppe. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort.
“Gott hatte sich auf diese Weise selbst in der toten Materie gefesselt und suchte sich aus ihr zu befreien. Wir dürfen nicht annehmen, dass Gott die Macht hat, aus dem Nichts etwas zu schöpfen. Er hat sich also für seine eigene Schöpfung selbst geopfert. Sein reines Wesen hat er sich noch in unvorstellbar großen Entfernungen bewahrt, wo noch heute Welten im Entstehen begriffen sind. Er ist also mit in die Materie hineingeflossen, war jedoch mit seiner Wohnstätte unzufrieden und suchte nach neuen Wegen, sich die Welt schöner zu machen.“
Der Alte machte wieder eine kurze Pause, um sich kurz zu sammeln, und fuhr dann fort, den jungen Römern zu berichten, die mit atemloser Spannung seinen Worten gefolgt waren.
“Geheimnisvolle Kräfte, die in der toten Materie überall schlummern, fügten Stoffe zusammen, die sich als lebensfähig erwiesen. Es waren die ersten Pflanzen und Tiere, klein und einfach im Bau, aber groß und unerklärlich in der Absicht, sich fortzupflanzen und, was noch bedeutsamer ist, sich weiterzubilden. Seit diesem Zeitpunkt hat diese Entwicklung niemals aufgehört, und die Welt sah von Epoche zu Epoche mannigfaltiger und schöner aus. Eines Tages erschien dann der Mensch, die Krönung der göttlichen Schöpfung. Es war das erste Lebewesen, das das göttliche Schalten und Walten in sich spürte und sich seines Vorhandenseins durch sich selbst bewusst war. Daher kann der Mensch auch nicht anders als selbst schaffen, bauen, gründen, entwickeln, denken und fühlen, was kein Lebewesen zuvor vermocht hatte. Wir wollen Gott danken, dass er uns geschaffen hat, und in dem Bewusstsein eines kleinen Teils seiner Macht in uns, die uns erfüllt und antreibt, wollen wir schaffen, wollen wir arbeiten. Denn in Erfüllung des göttlichen Willens finden wir unsere höchste Befriedigung.“
Der Glaube an die Zukunft
Der Weise zog ein Stück Leinentuch aus der Manteltasche und wischte sich den Mund trocken. Dann fuhr er fort.
„Leider spüren die meisten Menschen die geheimnisvollen Kräfte, die in ihnen wirken, heute nicht mehr. Und was den Menschen zur Tätigkeit drängt, wird für eigenen Willen gehalten. In seiner verderblichen Verblendung gab sich der Mensch der Eigensucht, der Geldgier und dem untätigen Wohlsein hin. Es scheint, als ob die heilige Entwicklung plötzlich stockte. Dennoch war mein griechischer Gastgeber hoffnungsvoll und meinte, dass dies nur kurzzeitige Tiefpunkte seien, die von Perioden des Fortschritts stets wettgemacht werden. Augenblicklich befinden wir uns in der Nähe eines solchen Tiefpunktes. Ihr beklagtet es eben, junge Freunde. Aber wir Menschen, die wir die missliche Lage unserer Zeit erkennen, sollten den Kopf nicht hängen lassen und in Vertrauen auf die ewig wirkenden, guten Kräfte in der Welt auf eine bessere Zukunft hoffen und gleichzeitig das Gute in die neue Zeit mit hinüberretten.”
Ein kühler Wind strich den Berg hinauf und machte die drei frösteln. Der Alte schlug umsichtig den Mantel um seine nackten Beine, hüstelte ein paar Mal und sprach dann weiter.
„Meine jungen Freunde, ich hoffe, ihr habt meine Rede bisher verstanden. Lasst euch nicht bekümmern durch das widersinnige Treiben unserer Umwelt und noch viel weniger durch unsere eigene Unvollkommenheit! Wir alle sind mit unserem Geist und unserer Seele an den Körper gebunden. Wir müssen mit ihm auskommen, denn wir wohnen in ihm. Vielleicht werden wir eines Tages von ihm erlöst und verschmelzen zu einer höheren Einheit, schweben, Gottes gleich gelöst, einig und zufrieden im unendlichen Raum. Wir wollen nicht verzweifeln, sagte ich, und wollen den Glauben an das Göttliche in uns, in der Erde, in der Sonne, in den Sternen, im Kosmos, einfacher gesagt: Wir wollen den Glauben an die Götter nicht aufgeben.“
Nachdenklicher Abstieg des Palatins
Ein feiner Sprühregen setzte ein, den Publius und Marcus kaum verspürten. So sehr hatte sie die Rede des betagten Kriegers in den Bann geschlagen. Die beiden saßen stumm auf der Steintreppe, sahen in der Ferne die Wachtfeuer flackern und unter ihnen den schweigenden Tempel. Nach einer Weile erhob sich Markus, der sich am schnellsten gefunden hatte.
„Publius wo ist er nur geblieben? Er ist ja nicht mehr da!“
„Wie? Was? Verschwunden sagst du?“
„Ja, ich kann ihn nirgendwo erblicken.“
„Er wird in seine Ruine zurückgekehrt sein. Lassen wir ihn in Ruhe! Er wird allein sein wollen. Komm, Markus, wir gehen nach Hause.“
„Aber wir müssen uns doch bedanken.“
„Unsere gespannte Aufmerksamkeit wird ihm Dank genug gewesen sein. Komm, Marcus, komm!“
Publius hatte auf einmal das Bedürfnis, wieder allein zu sein. Er musste das, was er soeben vernommen hatte, verarbeiten, und kein Gespräch sollte dabei seine Erinnerung trüben. Markus dachte ebenso.
Schweigend stiegen sie den Nordhang des Palatins hinab. Der immer stärker einsetzende Regen beschleunigte noch ihren Schritt. Unter den schweren Regenwolken drang kein Licht mehr von der freundlichen Himmelslaterne. An einer Straßengabelung trennten sie sich, nachdem sie noch kurz beschlossen hatten, sich fortan öfter zu treffen. Während Marcus rechts den Weg zum Kapitolinischen Berg einschlug, sah Publius zu, dass er so rasch wie möglich den vertrauten Tiber erreichte. Tief und traumlos schlief er in dieser Nacht. Vor dem Einschlafen hatte er sich vorgenommen, sich freudiger als sonst am nächsten Morgen auf die Arbeit zu stürzen.
Kapitel V
Gewitterwolken am Horizont
Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg mit der mächtigen Stadt Karthago verbreiteten sich wie ein Lauffeuer in Rom und versetzten diejenigen, die sich noch an Hannibals Armee vor den Toren der Stadt erinnerten, in Angst und Schrecken. Claudia verbrachte mit ihrer Familie einen aufregenden Urlaub im Apennin und paddelte oft mit dem Boot ihrer Eltern auf dem Matese-See. Sie und ihr Bruder Lucius wären beinahe ertrunken, als ihr Boot in einem heftigen Sturm kenterte. Zu Pferd erkundeten die beiden die Pfade rund um den malerischen Bergsee. Es gab so viel zu erzählen, doch der Brieffluss versiegte. Die Abstände zwischen ihnen wurden zu vierwöchigen Lücken. Etwas musste geschehen sein, das Publius Sorgen bereitete. Hatten seine Briefe ihre Leidenschaft verloren? Waren die geäußerten Gedanken zu philosophisch, egozentrisch, realitätsfern? Er konnte es nicht sagen.
Publius war noch immer von der Nachricht von Roms Kriegserklärung an seine geliebte Stadt in Afrika erschüttert, als ihn eine weitere Nachricht wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf. Claudia schrieb, sie habe einen jungen Mann namens Julius kennengelernt, mit dem sie nun verlobt sei. Sie träumten von ihrem Haus am Waldrand nahe der Stadt Lucera und planten zu heiraten. Die Nachricht riss den jungen Mann fast aus dem Gleichgewicht, zumal Claudia ihre Beziehung als bloße nette Korrespondenz zwischen Freunden beschrieb. Hatte er nicht mit ähnlichen Ausreden mit Bersika Schluss gemacht? Obwohl seine Emotionen hochkochten, antwortete er sofort auf ihren Brief und dankte ihr für ihre Ehrlichkeit. Es grenzte an ein Wunder, dass er sich bereit erklärte, ihr weiterhin zu schreiben. Dieses Versprechen war so untypisch für ihn, so gegensätzlich zu dem, was sein Stolz und sein Ehrgefühl ihm erlaubt hätten, dass es nur eine Erklärung gab: Er liebte sie immer noch.
Publius in Aufruhr
Schlaflose Nächte folgten. Publius führte endlose Selbstgespräche. Manchmal schob er sich die ganze Schuld auf die Schultern. Marcus hatte vielleicht recht, als er sagte, ein Kuss sei mächtiger als Worte, Leidenschaft stärker als zärtliche Gefühle, die nur in Briefen zum Ausdruck kommen. In diesen qualvollen Stunden des Wachseins ging ihm das beliebte Volkslied „Nimis lente amare“ durch den Kopf. Die scheinbare Wahrheit der Zeile „Ich verlor meinen wahren Geliebten, weil ich zu langsam war“ traf ihn besonders hart.
Plötzlich schlug das Pendel in die entgegengesetzte Richtung aus. Für einen kurzen Moment fand er Erleichterung, indem er Claudia die Schuld gab. „Man verlobt sich doch nicht über Nacht“, argumentierte er. „Warum hat sie mir nicht früher geschrieben? Warum hat sie den Briefwechsel so lange hinziehen lassen? Was ist mit ihren anderen Brieffreunden, dem jungen Mann aus Korinth zum Beispiel? Möchte sie sich alle Optionen offenhalten? Ist sie wie eine Biene, die in einer Art romantischem Tanz von einer Blume zur anderen fliegt, um zu sehen, wo sie den süßesten Nektar findet?“ Nachdem er beide Enden des emotionalen Spektrums erlebt hatte, entschied sich Publius schließlich für eine ausgewogenere Sichtweise. Das wild schwingende Pendel kam in der Mitte zur Ruhe. Die Sorge um Claudia verdrängte Wut und Eifersucht; vielleicht war sie der Verlockung des Eheglücks zu schnell erlegen.“
Diese inneren Monologe zogen sich mehrere Nächte hin, an deren Ende Publius völlig erschöpft war. Doch er hatte sich so weit beruhigt, dass er seinen Brief an Claudia mit den Worten beendete: „Nur eines musst du mir versprechen: Wenn du eine Gefahr für dein Glück darin siehst, dass du zwischen wahrer Freundschaft und Liebe zwischen Mann und Frau nicht unterscheiden kannst, oder wenn deinem zukünftigen Mann unser Briefwechsel nicht gefällt, dann habe den Mut, dich zu verabschieden. Denn ich möchte dein Glück nicht zerstören.“
Eine schicksalhafte Entscheidung
Nachdem er lange Zeit unter dem Schmerz und der Not gelitten hatte, zwei Lieben innerhalb eines Jahres zu verlieren, drehte sich die Kompassnadel seines Innenlebens nicht mehr unkontrolliert. Mehr als drei Wochen waren inzwischen vergangen. Claudia hatte bis jetzt nicht auf seinen Brief geantwortet, und er dachte, wenn ihre Korrespondenz schon enden sollte, sollte sie wenigstens mit einer guten Note enden. So schrieb er: „Eine Beziehung, egal wie man sie betrachtet, die sich so schön und liebevoll entwickelt hat, ist nicht die Art, die wir einfach abbrechen. Etwas von dem, was wir teilten, wird offenbleiben und für immer an unseren Herzen nagen. Deshalb möchte ich in aller Freundschaft beenden, was wir so innig begonnen haben. Lasst uns, wenn nicht im wahrsten Sinne des Wortes, dann zumindest symbolisch einander umarmen und ohne Bitterkeit auseinandergehen. Ich bin dankbar für all die lieben Briefe und sage dir noch einmal, dass du mir in der Zeit der inneren Not und Bedrängnis viel gegeben hast. Bitte schlage meine letzte Bitte nicht ab, liebe Claudia, und schreib mir nur noch einmal. Ein letztes Zeichen von dir, und ich bin zufrieden. Salve, Publius.“
Doch es gab kein Zeichen, und Publius war nicht zufrieden.
Am nächsten Morgen beschloss Publius trotz der Missbilligung seines Vaters, sich den Hilfstruppen der römischen Marine anzuschließen. Er hoffte, die Monotonie des Deckschrubben und ähnliche sinnlose Plackereien würden ihm einen Ausweg aus dem Schmerz bieten, innerhalb von weniger als einem Jahr zwei Geliebte verloren zu haben. Er stellte sich vor, auf einem Schiff vor Anker zu liegen, das vor einer abgelegenen Insel des Reiches lag, während sein Kapitän gemächlich auf den Befehl wartete, Piratenschiffe zu verfolgen und zu jagen. Jedoch ahnte er nicht, dass das Schicksal seinem Leben einen anderen, weitaus gefährlicheren Verlauf gegeben hatte.