Unser Weg nach Mellen
von Hartmut Kegler (Chart II a – III)
Für mich endete die Schulzeit mit der 7. Klasse. Darauf bin ich noch heute stolz. Wenn ich den Leuten erzähle, dass ich ein „Siebenklassenschüler“ bin, finde ich sofort Kontakt. Ich bin ihr Kumpel und nicht so etwas Verschrobenes wie ein Professor. Im Jahr 1944, meinem letzten Schuljahr also, war mein Zeugnis gar nicht so besonders. Mein lieber Großvater Ludwig Engel, der sich meiner besonders angenommen hatte, war ziemlich besorgt. Vor allem eine Fünf in Mathematik behagte ihm, dem Mathematiklehrer, überhaupt nicht. So war es mir gerade recht, dass unsere Schule in Hirschberg im Riesengebirge im Herbst des vorletzten Kriegsjahres 1944 als Lazarett genutzt worden war. Kein Unterricht mehr, sondern Kriegseinsatz des Deutschen Jungvolks! Das war wichtiger und interessanter als Vokabeln pauken! So zog ich meine Uniform an, sammelte meinen Jungzug und marschierte zum Bahnhof, um den dort ankommenden Flüchtlingen aus dem Warthegau oder noch weiter östlich beim Koffertragen zu helfen oder anderweitig nützlich zu sein. Dass mit den Flüchtlingen auch die Front immer näher rückte, war uns gar nicht so bewusst. Wir glaubten an den Sieg und an den Führer ungebrochen. Außerdem hatten wir im Vorjahr bei Oels tiefe Panzergräben ausgehoben, an denen die Russen sicher scheitern würden.
An Flucht haben wir Jungen nicht einen Augenblick gedacht. Selbst zum Jahreswechsel 1944/45 habe ich mir noch die Ansprache des Führers im Radio angehört: „Deutsche Volksgenossen, Soldaten der Deutschen Wehrmacht, Männer der Waffen-SS …“ . Seine Stimme klang ruhig, fest und zuversichtlich. So erschien es sicher nicht nur mir. Anders kann man es sich nicht erklären, dass so viele Menschen ihm wider alle Vernunft bis zum bitteren Ende glaubten, folgten und auf ihn hofften.
(Bund deutscher Mädchen) 1944
Der Winter brach herein und wurde hart. Viel Schnee und eisige Kälte herrschten im Land. Von den Sorgen, die sich meine Mutter Johanna Kegler und meine Großeltern Ludwig und Margarethe Engel machten, verspürte ich so gut wie nichts. Mein Bruder Jürgen erzählte mir erst vor kurzem, dass sich meine Mutter und Großmutter nicht nur gedanklich mit einer Flucht befasst, sondern sie im Stillen auch schon vorbereitet hatten. Unser Großvater soll damit nicht einverstanden gewesen sein. Er wollte unbedingt in seiner Heimat bleiben. Aber die beiden Frauen sorgten doch schon vor. Das merkten wir Kinder aber erst, als es tatsächlich losging. Unsere Mutter, seit 1940 Witwe, arbeitete als Rote-Kreuz-Schwester auf dem Hirschberger Bahnhof, wo sie Soldatentransporte mit Tee und anderen Dingen versorgte. Dort hörte sie auch so manches, was die Nachrichten des Großdeutschen Rundfunks nicht brachten.
Eines Tages in der ersten Februarwoche 1945 hieß es dann, dass am nächsten Tag der letzte Eisenbahnzug Hirschberg verlassen würde. Danach sollte der Zugverkehr eingestellt werden. Immerhin war die Front schon ziemlich nahe. Die Rote Armee stand vor Breslau. Sie konnte in wenigen Tagen in Hirschberg einmarschieren. Nun gab es kein Zögern mehr. Wir drei Kinder, Elisabeth, Jürgen und ich, bekamen ein Rucksäckchen umgehängt, das die wichtigsten Utensilien enthielt, eine Pelzmütze aus Karnickelfell auf den Kopf und ab ging es zum Bahnhof. Wie Mutter und Großeltern die Koffer dorthin geschleppt hatten, ist mir noch heute ein Rätsel.
Tatsächlich bekamen wir in einem Abteil dritter Klasse eines bereit stehenden Personenzuges noch Sitzplätze. An die Fahrt kann ich mich nur noch sehr vage erinnern. Ich dachte nur immer daran, dass ich meine Fanfare und meine Uniform nicht mitgenommen hatte. Ich war ja Jungzugführer im Fanfarenzug des Jungstammes 1 und hatte mich nicht abgemeldet! Dass Mutter und Großeltern einen ganzen Hausstand mit wertvollen Büchern, ein Klavier, kostbare Möbel von Wohn-, Herren- und Schlafzimmern, Kleidung, Wäsche, Geschirr, Wertgegenstände verschiedenster Art zurück gelassen hatten, kam mir nicht in den Sinn. Erst als wir um jeden Kochtopf oder jede Tasse betteln mussten, begriff ich, was wir verloren hatten.
Die Fahrt wurde ziemlich strapaziös. Der Zug war anfangs nur wenig, später überhaupt nicht mehr geheizt. Wir froren erbärmlich und hatten Hunger. Die wenigen Stullen, die wir mitgenommen hatten, waren bald aufgegessen. Der Zug fuhr immer ein paar Kilometer und hielt dann auf freier Strecke plötzlich an. Glücklicherweise blieben wir wenigstens von Fliegerangriffen verschont. Aber unser Großvater bekam plötzlich Fieber. Natürlich konnte ihm niemand helfen. Das war schon eine Sorge! Immer weiter bewegte sich der Zug in Richtung Westen. An den Bahnhöfen fuhr er meistens durch, Fahrpläne waren außer Kraft gesetzt. So gab es keine Möglichkeit, wenigstens etwas Warmes zu trinken zu bekommen.
Der letzte Aufenthalt auf freier Strecke erfolgte dann vor Dresden. Stundenlang blieb der Zug dort stehen. Die Kälte zog in alle Glieder, der Magen knurrte vor Hunger. Des nachts erkannte jemand am Horizont einen rot-gelben Schein und ein dunkles Grummeln und Donnern war zu vernehmen. Keiner wusste es zu deuten. Erst später erfuhren wir, dass es die teuflische Bombennacht des 13. Februar war, die ihre Zeichen gesandt hatte. Wären wir nur wenige Stunden früher dort angekommen, dann wären wir in das Inferno der Spreng- und Phosphorbomben geraten und hätten ganz sicher nicht überlebt.
Am nächsten Morgen setzte sich der Zug in entgegengesetzter Richtung in Bewegung und fuhr von nun an langsam, aber stetig weiter. Über das Wohin machte ich mir keine Gedanken. In bleibender Erinnerung ist mir aber der Bahnhof und Wartesaal von Stendal geblieben. Der Fußboden des Saales war mit einer dicken Strohschicht bedeckt. Wir hauten uns sofort hinein, was wir nach dem langen Sitzen auf den harten und kalten Bänken des Eisenbahnzuges als paradiesisch empfanden, und schliefen selig ein. Unvergesslich sind mir dann noch die Leberwurststullen, die uns Rote-Kreuz-Schwestern reichten! Sie waren das reine Festmahl! Wenn ich später, als die Hungerzeit vorüber war, erlebte, wie Butterbrote oder anderes Essen achtlos weggeworfen wurden, musste ich immer an die Leberwurststullen von Stendal denken. Muss der Mensch erst Hunger leiden, um das „Täglich Brot“ zu achten?!
Über dem Bahnhof von Stendal kreisten deutsche Jagdflieger. Sie bestärkten uns in unserer Siegeszuversicht. Die deutsche Luftwaffe war ja die stärkste der Welt! Dass englisch-amerikanische Bomberverbände über Deutschland fliegen und ihre tödliche Last nach Belieben abwerfen konnten, ohne von deutschen Jägern daran gehindert zu werden, war mir nicht bewusst. Ich sehe sie noch heute in Pulks von 60 oder mehr Fliegern über uns hinwegziehen. Bombennächte haben wir ja nicht erleben müssen. In Niederschlesien lebten wir diesbezüglich geradezu im Paradies, jedenfalls im Vergleich zu den Großstädten im Westen Deutschlands. Wie oft hatten wir Jungs uns, wenn wir die Schule wieder einmal satt hatten, einen Fliegeralarm gewünscht!
Endlich endete unsere Reise Richtung Westen in einem Städtchen, das mir bisher völlig unbekannt gewesen war. Es hieß Lenzen und lag an der Elbe. Wie wir von dort in das 10 Kilometer entfernte Mellen gekommen waren, weiß ich nicht mehr. Später bin ich die Strecke oft mit Mutter oder Großvater gelaufen, um in Lenzen mal einen Hering oder mal etwas anderes zu essen zu ergattern.
In Mellen angekommen, ging es von der Dorfstraße einen Hohlweg hinab zu einer Wassermühle, die ganz idyllisch an einem kleinen Teich gelegen war. Dahinter blickte man auf Weiden und einen großen See, dessen Ufer mit Schilf bewachsen waren. In der Mühle bezogen wir zwei kleine Zimmer im ersten Stock. Neben uns wohnte ebenfalls in zwei kleinen Räumen eine russische Familie. Der Mann hieß Sascha, die Frau Shura und beide hatten eine kleine Tochter. Sie waren Fremdarbeiter, die aus der Sowjetunion verschleppt worden waren und in der Mühle arbeiteten. Wie glücklich waren wir, nach der langen Fahrt wieder in einem Bett liegen zu können, auch wenn es keine Matratzen hatte, sondern wir auf Strohsäcken lagen.
Die Mellner Mühle
oben: Foto, unten: Gemälde, zu besichtigen im
Heimatmuseum Perleberg
Unsere Mutter erklärte uns nun, warum wir ausgerechnet nach Mellen geflüchtet waren. Wir waren nun in der Mühle untergebracht, aus der der Kamerad unseres Vaters stammte. Nun erinnerte ich mich auch daran, dass in den letzten Jahren zu Weihnachten immer ein kleines Paket ankam, in dem etwas zu naschen war. Der Absender hieß Walter Krumm, Feldpostnummer sowieso. Später blieben diese Sendungen aus. Walter Krumm war als vermisst gemeldet worden. Irgendwo in den Weiten Russlands ist er verschollen. Auch Frau Krumm war also Witwe geworden. Ihr hatte unsere Mutter geschrieben und sie gefragt, ob wir im Notfall bei ihr Unterkunft erhalten könnten. So gelangten wir also zu dem legendären Ort Mellen.
Anfangs ging es uns dort gut. Mit der Familie Krumm verstanden wir uns offenbar glänzend. Frau Krumm hatte auch drei Kinder, die Werner, Elisabeth und Hildegard hießen. Sie wurden unsere Spielgefährten. Wenn Werner Krumm auf die Toilette (Plumpsklo) musste, sagte er immer: „Ick jeh uff Kloster!“ Mit Elisabeth Krumm, heute Elisabeth Preuß, stehen wir noch immer in Verbindung. Wir erhielten ja noch Lebensmittelkarten und hatten das Nötigste zu essen. Ich wurde von einem Fähnleinführer Klaus Krusemark aufgefordert, den Jungzug in Mellen zu übernehmen. Sicher hätte ich den Befehl auch ausgeführt, doch dazu ist es nicht mehr gekommen. Ab März 1945 bekamen wir nämlich das Kriegsgeschehen unmittelbar zu spüren. Tiefflieger kreisten über uns hinweg und schossen auf alles, was sich so zeigte: Auf den pflügenden Bauern, die Hausfrau im Garten und auch auf spielende Kinder. Sie machten sich einen Sport daraus. Wenn man Soldat wird, ist man nicht nur zum Töten verpflichtet, es wird einem offenbar sogar zum Bedürfnis. Für die Siegermacht ist Töten dann ein Sport. In bleibender Erinnerung ist mir ein Ereignis, das ich mit meiner Schwester Elisabeth er- und überlebt hatte. Eines Tages im April 1945, die Sonne schien vom Himmel und es war angenehm warm, ging ich mit ihr den schon genannten Hohlweg von der Mühle zum Dorf hinauf. Plötzlich überflog uns in wenigen Metern Höhe ein englischer Jagdbomber, „Jabo“ genannt. Als er über uns hinwegpfiff, haben wir uns reflexartig geduckt. Dann gingen wir weiter, weil wir dachten, dass alles vorbei sei. Doch der Jabo kehrte zurück und feuerte aus allen Rohren auf uns Kinder. Schlagartig legten wir uns auf die Erde und sahen nur den Sand aufspritzen, wo die Granaten eingeschlagen hatten. Da bewährte sich meine vormilitärische Ausbildung, die ich in einem Wehrerziehungslager im Jahr 1943, geführt von Soldaten der Waffen-SS, erhalten hatte. Ich nahm Elisabeth an der Hand und rannte mit ihr an die Seite des Hohlweges, aus der der Flieger wieder zu erwarten war. Tatsächlich kam er von dort angeflogen und schoss. Doch die Schüsse landeten auf der Gegenseite des Hohlweges. Wir lagen im „toten Winkel“. Nachdem der Jabo uns überflogen hatte, rannten wir auf die Gegenseite, so dass sich das „Spiel“ wiederholte. Schließlich drehte die Maschine ab und wir konnten wieder aufatmen. Zum Glück hatte unsere Mutter das nicht miterlebt. Sie wäre vor Angst um uns sicher fast gestorben. Ich aber war stolz, den Feind so genarrt zu haben!
Es gab sogar noch ein Erlebnis der Vergeltung! In der Nähe von Mellen, da wo heute der Siedlungsweg endet, befand sich eine Flak (Fliegerabwehrkanone). Es war ein Zwillingsgeschütz mit dem Kaliber 3,7. Bedient wurde sie von einem kaum zwanzig Jahre alten Unterscharführer (Unteroffizier) der Waffen-SS. Er trug das Eiserne Kreuz erster Klasse und war für mich der Inbegriff des Helden. Natürlich hielt ich mich bei ihm auf so oft ich konnte. Der Junge schoss auf alles, was sich am Himmel über ihm zeigte. Aber von dort wurde auch zurück geschossen. So lag ich mehr hinter den Sandsäcken und hielt mir die Ohren zu, als dass ich am Geschehen teilnahm. Tatsächlich hat aber eine Salve aus der Flak einen englischen Jäger voll getroffen. Der begann an den Tragflächen zu qualmen und drehte in Richtung Elbe ab. Eines Tages war aber die Flak verschwunden. Das bedauerte ich sehr. Zu gerne hätte ich noch einmal einen Abschuss erlebt. Möglicherweise hätte ich ihn aber auch nicht überlebt.
Doch der Krieg war für mich noch nicht zu Ende. Es gab nämlich den Befehl, an der Straßenkreuzung, wo sich die Gastwirtschaft Paul Lewerenz befand, eine Panzersperre zu errichten. Damit sollten 10 Kilometer vor der Elbe, wo bereits die Engländer standen, die Russen aufgehalten werden. Mit Vernunft hat Krieg sowieso nichts zu tun. Dies aber war der reine Schwachsinn. Aber ich schleppte mit vielen anderen Großen und Kleinen Steine und Balken. Einen ganzen Tag stand dann auch die Panzersperre quer zur Straße. Das Ergebnis dieser „Befestigung“ bekamen wir postwendend zu spüren: Tiefflieger beschossen mit Leuchtspurmunition die Sperre und alles darum herum. Schließlich ging die Scheune neben der Gastwirtschaft in Flammen auf und brannte nieder. Deutsche Fallschirmjäger, die nach diesem Angriff durch Mellen in Richtung Elbe zogen, um für sich den Krieg einigermaßen glimpflich zu beenden, erklärten uns für verrückt und rieten uns dringend, wenn uns unser Leben auch nur einen Pfifferling wert sei, die Panzersperre so schnell wie möglich wieder zu entfernen. Denn bald würden die Russen hier eintreffen und dann „gäbe es Zunder“, dann bliebe kein Stein mehr auf dem anderen.
Die oben erwähnte Kreuzung auf einer Postkarte von 1913
So trugen wir also schleunigst unsere so mühevoll errichtete Panzersperre wieder ab. Nun begann auch ich allmählich am „deutschen Endsieg“ zu zweifeln. Man sieht: Politisch bin ich schon damals ein typischer „Spätentwickler“ gewesen. Bestärkt in meinem Zweifel wurde ich, als Mutter und Großeltern in Krumms Garten einige Dinge vergruben, an die ich mich aber nicht mehr genau erinnere. Wiedergefunden wurden sie jedenfalls nie. Ich weiß nur, dass ich meinen Dienstausweis vom Deutschen Jungvolk auch vergraben hatte. Man sagte ja, dass die Russen alle erschießen würden, die für Hitler waren. Und das war ich ja nun einmal. Ich erinnere mich auch an ein Gespräch zwischen Frau Krumm und meiner Mutter, im Verlaufe dessen Frau Krumm verbittert ausrief: „Nie wieder einen Gefreiten!“ Damit meinte sie Hitler, der ja im Ersten Weltkrieg Gefreiter gewesen und nun Oberster Befehlshaber der Wehrmacht geworden war, vor dem alle Generäle stramm gestanden haben. Hinter vorgehaltener Hand haben sie ihn aber „Gröfaz“ genannt: „Größter Feldherr aller Zeiten“. Darauf stand aber die Todesstrafe! Auf jene Bemerkung von Frau Krumm erwiderte unsere Mutter leise: „Ich verurteile ihn nicht!“ Damals war ich richtig stolz auf sie.
Kurz bevor die Rote Armee in Mellen einzog, kamen noch berittene Wlassow-Truppen durch den Ort. Es waren Russen, die zur deutschen Wehrmacht übergelaufen waren und gegen die Rote Armee gekämpft hatten. Sie trugen Kosakenmützen mit dem deutschen Hoheitsadler. Auch sie wollten noch über die Elbe zu den rettenden Westalliierten. Später stellte sich aber heraus, dass diese „Retter“ sie an die Rote Armee wieder ausgeliefert hatten. Sie wurden von Stalin grausam umgebracht.
Eines nachmittags Ende April hörten wir von Boberow her Panzer rollen. Es fielen auch Schüsse. Die Angst saß uns allen im Nacken. Was tun? Ins Schilf flüchten oder in der Scheune verstecken? Ich sehe uns noch zusammen in der kleinen Stube neben der Küche sitzen. Unsere Mutter hatte sich ihr Haar mit Mehl weiß gefärbt, um alt auszusehen. Es hieß ja, die Russen würden alle Frauen vergewaltigen. Sie saß neben Oma Krumm auf dem Sofa, wir Kinder hockten auf Stühlen am Tisch oder auf dem Fußboden. Plötzlich öffnete sich die Tür und ein Rotarmist betrat den Raum. Er blickte sich um, sagte nichts und verschwand wieder. Das war es dann auch zunächst. Abends gingen wir in unsere Zimmer schlafen. Im Nebenzimmer schliefen unsere Mutter und Großmutter. Die Tür haben wir mit einem Schrank verstellt. So befanden sich nur Großvater und wir Kinder im vorderen Raum. Nachts kamen immer wieder Soldaten die Treppe hochgepoltert, rissen die Tür auf und leuchteten uns mit ihren Taschenlampen ins Gesicht. „Deutsch Soldatt?“, riefen sie. Großvater antwortete „Njet!“ So ging es wiederholt. Die Truppen, die das Dorf besetzt hatten, wechselten laufend, so dass immer wieder nach deutschen Soldaten gesucht wurde. Aber die waren ja alle schon über der Elbe. Oder sie lagen als Leichen herum. In dieser Zeit habe ich den ersten toten Menschen im Leben gesehen. Es war ein Angehöriger der Feldgendarmerie. Er hatte sich im Müllerbusch mit einer Pistole das Leben genommen. Diese Truppe war ja gefürchtet wie die SS. Jeder Soldat, der aufgegriffen wurde und keinen Marschbefehl nachweisen konnte, wurde von ihnen erschossen oder aufgehängt. Von den Russen hatte er nichts Gutes zu erwarten. Auch von den Deutschen nicht.
Unsere Nachrichten erhielten wir nun aus verschiedenen Quellen. Die Rotarmisten teilten uns voller Genugtuung mit: „Gitler kaputt!“ Für uns hieß das: Unser Führer war auf dem Felde der Ehre gefallen. Andere Nachrichten erhielten wir aus dem Radio, ohne zu wissen, wo überhaupt noch ein Sender stand und wie er funktionierte. Das Sendezeichen hatte die Melodie von „Freiheit, die ich meine …“ Man berichtete von Hitlerjungen, „Werwölfe“ genannt, die den Kampf gegen die „Feinde“ fortsetzten. Sie sprengten Lastkraftwagen der Alliierten in die Luft, schossen auf Soldaten, legten Minen auf Straßen und dergleichen. Auch sie suchte man natürlich bei den ständigen Kontrollen. Dabei wurden zumindest in der sowjetisch besetzten Zone junge Leute, oft völlig unschuldig, von der Straße aus verhaftet und in Konzentrationslager gebracht. In Mellen hatten wir so etwas nicht erlebt. Dafür spielten wir Jungen mit Waffen, die ja überall herumlagen. Die Wehrmachtssoldaten hatten kurz vor der rettenden Elbe alles weggeworfen. So lasen wir Karabiner, Handgranaten, Flakgeschosse, Leuchtspurmunition und Stahlhelme auf und spielten damit „Krieg“. Die Leuchtspurmunition steckten wir in Rohre und stießen diese auf Nägel. So wurde die Patrone gezündet und flog hoch in den Himmel mit leuchtend rotem oder grünem Schein. Einer von uns spielte in der Sandkuhle neben der Mühle mit einer Handgranate, die er etwas verspätet wegwarf, so dass sie ziemlich nahe explodierte. Ich bekam einen Splitter am Arm ab, erzählte aber nichts davon zu Hause. Meine Mutter hätte zu große Ängste ausgestanden. Sie hatte zudem auch ganz andere Sorgen.
Inzwischen hatte sich das Kriegsgeschehen etwas gelegt. Wir Mühlenbewohner lebten einigermaßen ruhig. Ein „Schutzengel“ hatte sich nämlich eingefunden. Der hieß Sigmund und war ein russischer Leutnant. Er wohnte in der Mühle und bewahrte uns vor Üblem. Der „Preis“ war eine Frau Schulze, die oben im Dorf wohnte und die den Sigmund allabendlich besuchte oder mit ihm ausging. Von Vergewaltigung konnte man in diesem Fall nicht sprechen. Uns war es nur recht. Ein Bauer Heuer, Vater von Emmi Heuer, wurde vom Ortskommandanten als Bürgermeister eingesetzt. Er trug eine rote Armbinde, hatte aber wahrscheinlich noch nicht viel zu sagen.
Unsere Mutter hatte inzwischen eine Beschäftigung gefunden, die für die Familie nützlich war. In der Gaststätte Lewerenz hatte die Ortskommandantur für ihre Soldaten eine Küche eingerichtet. Dort durfte Mutter Johanna Kartoffeln schälen oder kochen. Das Fleisch besorgten sich die Soldaten von den Weiden. Ich musste selbst mit ansehen, wie sie einem Rind bei lebendigem Leib die Kehle durchschnitten, es gleich zerteilten und die Stücke auf Schultern ins Dorf trugen. Als Lohn brachte unsere Mutter dann so manche Schüssel mit Brühe oder gekochten Kartoffeln nach Hause. Da lebten wir alle auf, denn die Ernährungsfrage wurde allmählich kompliziert. Lebensmittelkarten gab es nicht mehr. Geld war auch nicht vorhanden. Woher also nehmen, wenn nicht stehlen? Letzteres behielt ich mir vor. Ich klaute mal vom einen Acker Rüben, mal aus einem Garten Möhren oder aus einem Hühnerstall Eier. Meine Schwester Elisabeth blieb ehrlich und übernahm die Rolle der Bittenden. Sie ging von Hof zu Hof und fragte nach Milch oder etwas anderem Essbaren. Wir nannten sie, weil sie gar nicht so erfolglos blieb, „Hamsterweiberle“. Ich sehe sie immer noch, wie sie barfuß die Straße oder den Feldweg entlang tappelte, mit einer Milchkanne in der Hand, und von Haustür zu Haustür um etwas Milch bat. Aber die Bauern zeigten sich ziemlich hartherzig. Da war weder von „Volks-“ oder „Schicksalsgemeinschaft“ noch von „christlicher Nächstenliebe“ etwas zu spüren. Das deutsche Volk war restlos demoralisiert. Wie oft bekam Elisabeth auf die Bitte um etwas Magermilch die Antwort: „Us Katt hätt noch nix!“ (Unsere Katze hat noch nichts.) In den Hungerjahren nach dem Krieg begann sich in mir so etwas wie „Klassenbewusstsein“ zu regen. Vor allem in der Landwirtschaftlichen Winterschule in Perleberg, als die Bauernjungen fette Wurststullen verzehrten, während ich mit knurrendem Magen daneben saß, stieg in mir leise eine merkwürdige Wut hoch. Aber das nur so nebenbei.
Ist die Not am größten, sei der liebe Gott am nächsten, heißt es. Viel hat er uns nicht geholfen, aber immerhin: Der Zufall wollte es, dass der Bauer Müller in der Siedlung jemanden suchte, der bei der Ernte helfen konnte. Da meldete ich mich. So ging ich an jedem Tag früh hin, spannte die Pferde an und fuhr aufs Feld, um Getreide zu mähen oder zu laden und andere Arbeiten zu verrichten. Der Lohn war dann eine warme Mahlzeit am Tag und ein Butterbrot zur Vesper. Für die Familie war das schon einmal eine gewisse Entlastung. Während ich beim Bauern arbeitete, gingen die Großeltern, die Mutter, Elisabeth und Jürgen hinaus auf die abgeernteten Getreidefelder, um Ähren zu lesen. An den Stoppeln stießen sie sich ihre Füße wund. Natürlich musste das Feld schon nachgeharkt worden sein, sonst kam der Bauer und verjagte das Flüchtlingspack, die Habenichtse aus dem Osten. Mit den aufgelesenen Ähren ging man dann nach Hause, rubbelte die Körner aus, zerrieb sie oder gab sie in die Mühle, um danach einen Brei zu kochen oder ein Stück Brot zu backen.
Unser Großvater, die gute Seele, hatte bei den Russen einen Stein im Brett. Sie liebten Kinder und alte Leute, das fiel auf. Großvater konnte zwar kein Wort Russisch, verständigte sich aber doch mit ihnen und sie taten ihm nichts an. Immerhin war er der einzige Flüchtling der ehrlich zugab, dass er in der NSDAP gewesen war. Alle anderen aus dem Osten waren natürlich schon immer gegen Hitler gewesen!! (So wie 1989 angeblich alle gegen Honecker gewesen waren.) Dabei war Großvater alles andere als ein „Nazi“. Er war Lehrer und Kantor, sonst nichts. In die Partei ist er nur seinem Schwiegersohn zuliebe eingetreten. Aber seine Ehrlichkeit brachte es ihm nach der Wiedereröffnung der Schulen ein, dass er nicht mehr als Lehrer arbeiten durfte. Dabei war er ein so guter und gütiger Lehrer. An „Opa Engel“ erinnerten sich ehemalige Schüler nach Jahrzehnten noch. Eine Episode bei der Begegnung mit einem Rotarmisten blieb mir in Erinnerung. Die sowjetischen Soldaten waren ja bekanntlich sehr auf Uhren aus. „Uhri, Uhri!“ sagten sie und nahmen den Leuten ihre Uhren ab. Großvater war pfiffig und steckte seine goldene Taschenuhr der Marke „Glashütte“ in den rechten Schuh. Als auch er einmal von einem Russen aufgefordert wurde, seine Uhr herzugeben, zeigte er seine Arme, an denen nichts zu sehen war. Der Soldat forderte ihn nun auf, die Schuhe auszuziehen, weil er etwas ahnte. Großvater zog den linken Schuh aus, in dem sich nichts befand. Da klopfte ihm der Russe auf die Schultern, lachte und ging los. So wie ich Großvater in Erinnerung habe, hat ihm die Täuschung des russischen Soldaten Gewissensbisse verursacht. Die Uhr mit den Spuren ihres einstigen Versteckes trägt heute sein Urenkel Harald.
Mein Aufenthalt in Mellen war ja zeitlich sehr begrenzt. Er dauerte von Februar bis September 1945. Meine Arbeit beim Bauern Müller war keine Perspektive. Die Schule weiter zu besuchen, war zunächst nicht möglich, und dann hatte ich dazu auch gar keine Lust mehr. Irgendwie hatte es meine Mutter mit unserem Onkel Günther Kegler, der in Erfurt lebte, so arrangiert, dass ich in Abtsbessingen, Kreis Sonderhausen, eine ordentliche Lehrstelle auf einem vorbildlichen Bauernhof erhielt. Mein Lehrherr hieß Karl Breitenstein. Ich hatte an der Landarbeit nicht nur des Essens wegen Gefallen gefunden. Außerdem hatte ich mich des Rates eines ostpreußischen Landwirtes erinnert, der gegen Kriegsende durch Mellen gekommen war und in der Mühle Halt gemacht hatte. Er sagte zu mir – und das klingt mir noch heute in den Ohren: „Junge, werde Bauer! Dann bist du immer an der frischen Luft und hast auch was zu essen!“ Von den Schwielen an den Händen hat er nichts gesagt. Die bekam ich gratis.
So setzte ich mich Anfang Oktober 1945 abends in Mellen auf einen Pferdewagen, der mich nach Lenzen brachte. Ich war gute 14 Jahre alt. Meine Mutter winkte mir mit Tränen hinterher. In Lenzen bestieg ich einen Zug nach Wittenberge. Hier übernachtete ich im Wartesaal, wo man einen Hering für 10 Mark verkaufte. Geld hatte ich aber nicht. Nach zwei Tagen und einer Fahrt zum Teil auf den Puffern der Waggons sitzend, zum Teil in Güterwagen liegend, erreichte ich über Nordhausen dann das Dorf Abtsbessingen, wo ich als Landarbeitslehrling und mit einem Monatslohn von 12 Mark meine landwirtschaftliche Ausbildung begann.
Nach Mellen kam ich nur in den kurzen Urlaubstagen zurück, wo ich meistens schon verplant war: Bauern wie Jakobs oder Rohra, die meiner Familie verschiedentlich geholfen hatten, wurde versprochen, dass der Hartmut ihnen hilft, wenn er auf Urlaub kommt.
Obwohl ich in Mellen nur kurze Zeit gewesen bin, wurden mir das Dörfchen und die Prignitz doch so etwas wie eine zweite Heimat. „Leben ist Inhalt, nicht Zeit“, hat ein weiser Mensch einmal gesagt. Das trifft bei mir für Mellen zu. Die „Wendezeit“ des Jahres 1945 hat eben ihre Spuren hinterlassen. Außerdem liegen dort die Gräber meines Großvaters und meiner Schwester Elisabeth. So lange es geht, fahre ich dort auch immer wieder hin.