Gerhard Kegler – ein militärischer und ziviler Held


Gerhard Kegler – ein militärischer und ziviler Held

Biographische Skizze
Beitrag von Dietrich Kegler

 

Die militärische Laufbahn meines Vaters ist hinreichend bekannt und verschiedentlich nachzulesen, nicht zuletzt im Internet, wo die Generale der Wehrmacht ausführlich vorgestellt werden. Bekannt wurde Generalmajor Kegler in Deutschland vor allem durch die Ereignisse am Ende des Krieges, als er in hoffnungsloser Situation die Stadt Landsberg (ehemals in der Neumark gelegen, heute polnisch) auf Befehl Himmlers verteidigen sollte, der sich die Befehlskompetenz der 9. Armee anmaßte, die eigentlich dem Kommandeur der Armee, General Busse, zustand. Wie man weiß, weigerte sich mein Vater, diesen unsinnigen Befehl auszuführen, wurde sofort zum Kriegsgericht nach Torgau bestellt und dort in einem Schnellverfahren zum Tod durch Erschießen verurteilt.

Generalleutnant Gerhard Kegler - Gutfelde 1944

Generalmajor Gerhard Kegler – Gutfelde 1944

Nur dem Untersuchungsrichter Freiherr von Dörnberg ist es zu verdanken, dass mein Vater überlebte. Er wurde zum Schützen degradiert und als einfacher Soldat wieder an die Ostfront geschickt, die sich bereits an der Oder befand. Dort, unweit von Frankfurt/Oder, wurde er verwundet und in einem langen und sehr beschwerlichen, immer wieder aus der Luft beschossenen Bahntransport nach Eutin in Schleswig-Holstein gebracht. Da hatte sich die ursprünglich kleine Wunde (ein Granatsplitter in der linken Schulter) derartig verschlechtert, dass der linke Arm abgenommen werden musste. Mein Vater blieb noch eine kurze Zeit der Rekonvaleszenz in Eutin und wurde dann aus englischer Gefangenschaft noch 1945 nach Gießen entlassen, wo unsere Familie im Jahre 1947 wieder zusammenfand.

Gerhard Kegler between his Daughter Helga and Brother Günther 1964

Gerhard Kegler zwischen Tochter Helga and Bruder Günther Kegler (1964)

Da die Bundesrepublik sich noch lange auf das von Himmler befohlene Urteil des Kriegsgerichts (Degradierung vom Generalmajor zum Schützen) berief und meinem Vater die ihm zustehende Pension verweigerte, bedurfte es erst einer großen Pressekampagne, um die Behörde zu bewegen, das Urteil aufzuheben, was schließlich durch den Bundespräsidenten geschah. Dann konnte mein Vater seine Pension erhalten.

Die große Pressekampagne zeitigte noch eine andere positive Folge. Freunde und Bekannte, die in den Wirren des Kriegsendes, durch Flucht, Ausbombung usw. überallhin verschlagen worden waren, wurden aufmerksam und nahmen Kontakt zu unseren Eltern auf. Ich erinnere mich an viele Besuche ehemaliger Freunde, Kameraden oder Untergebener meines Vaters. Und immer hörten wir großes Lob und große Anerkennung, wenn diese Menschen von den Ereignissen erzählten, die sie zusammen mit meinem Vater erlebt hatten.

Die tapfere und verantwortungsvolle Handlungsweise meines Vaters bei Landsberg ist nicht das einzige Ereignis dieser Art. Immer wieder wagte er, Vorgesetzte zu kritisieren, wenn sie unsinnige Befehle gaben. Dafür wurde er mitunter durch Versetzungen bestraft.

Umsichtiges Handeln in schwierigen Situationen berichtet auch schon die Regimentsgeschichte des Westpreußischen Infanterieregiments 149, dem mein Vater im Ersten Weltkrieg angehörte. Eine dieser Aktionen war die nächtliche Aushebung eines französischen Doppelpostens bei Reims in der Champagne, die dem Regiment wertvolle Informationen lieferte und, wie ausdrücklich betont wird, größere Verluste ersparte. Mein Vater hat uns auf einer Frankreichreise in den sechziger Jahren die Stelle gezeigt, wo er mit ein paar freiwilligen Leuten die Franzosen nachts überraschte, gefangen nahm und hinter die deutschen Linien brachte, wo man sie verhören konnte.

Soweit der militärische Teil im Leben meines Vaters. Aber das Leben ging ja nach dem überstandenen Krieg in Gießen weiter und gewährte meinen Eltern nach der ersten harten und entbehrungsreichen Zeit auch noch schöne Jahre.

Unsere Mutter hatte ebenfalls seit Kriegsbeginn Schweres durchgemacht. Aus München, wo das Leben durch die Luftangriffe immer unsicherer wurde, zog sie mit uns Kindern in den Warthegau. Von dort musste sie sich mit Jutta und mir wie Millionen anderer Menschen auf die wochenlange winterliche Flucht begeben. Wir fuhren zunächst in einem Planwagen mit polnischem Kutscher durch das winterliche Westpreußen, bis der Pole irgendwo in Pommern umkehrte. Ein Offizier nahm uns mit seinem Fahrzeugkonvoi bis nach Berlin mit, von dort ging es in überfüllten Zügen nach Dresden zu meiner Großmutter. Helga und Nati waren vorher schon nach Augustusburg (bei Chemnitz) gebracht worden. Bevor wir aber dort sein konnten, erlebten wir die drei verheerenden Bombenangriffe, an die ich mich lebhaft erinnere.

Im Sommer 1947 verließen wir die sowjetische Besatzungszone und gingen bei Philippstal an der Werra schwarz über die grüne Grenze, wobei uns die ortskundige Tante Lucie half. Unsere Familie fand nun in Gießen wieder zusammen. Wir wohnten zunächst in zwei Zimmern der Bergschenke, einem Hotel und Restaurant, das ursprünglich zum Kruppschen Bergbaubetrieb gehörte. Vater hatte in der Bergschenke eine vorläufige Bleibe gefunden und die Aufgabe eines Hausmeisters und Betreuers der dort wohnenden Studenten übernommen. Diese Studenten waren zumeist bereits Kriegsteilnehmer gewesen und studierten an der Universität Gießen Tiermedizin. Als Familie Stolcke, Onkel Werner, Tante Anni und ihre drei Kinder, nach Argentinien auswanderte, konnten wir aus der Bergschenke in die relativ komfortable „Baracke“ auf dem Bergschenkengelände umziehen, die sie bewohnt hatten.

Die Lebenssituation war in dieser Zeit zwischen Kriegsende und Währungsreform (1948) bekanntlich äußerst prekär. Als Vater uns in jenem Sommer 1947 in Gießen erwartete, sammelte er in einer ehemaligen Munitionskiste eine Menge von Lebensmitteln, die er sich vom Mund abgespart hatte, um seiner Familie einen guten Empfang zu bereiten. Das ist eine Tatsache, die ich selbst nicht bezeugen kann, Helga mir aber erzählte.

Besser wurde die Situation erst, als Vater die Stelle eines Stadtjugendpflegers der Stadt Gießen übernehmen konnte. In dieser Zeit, Anfang der fünfziger Jahre, erfolgte auch seine Rehabilitierung, wodurch sich unsere Lebenssituation entscheidend verbesserte.

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Gerhard Kegler zwischen Bruder Günther und Sohn Dietrich (1969)

Das Leben mit der Einarmigkeit verlangt sehr viel Geduld und Geschicklichkeit. Durch Geduld zeichnete sich unser Vater gewiss nicht aus, aber er war sehr geschickt bei allen Verrichtungen, wozu ein Mensch normalerweise beide Arme braucht. Und der Stolz über die relative Unabhängigkeit und Selbständigkeit, die Vater sich trotz der Einarmigkeit erworben hatte, kam zum Beispiel in einem Reim zum Ausdruck, den Helga und Nati zum 50. Geburtstag unseres Vaters in einem Gratulationsgedicht formulierten. Sie legten ihrem Vater folgende Worte in den Mund, die er sicherlich in „Prosa“ geäußert hatte: „Was ich mit einer Hand kann richten, macht Ihr mit zweien stets zunichten.“ Vater brauchte nur zu wenigen Handlungen im Alltag Hilfe, so etwa zum Schnüren der Schuhe. Aber Rasieren, Schlips binden, Schreibarbeiten usw. erledigte er ohne Hilfe, auch Autofahren in Fahrzeugen, die dafür nicht besonders präpariert waren. In den Wagen mit Schaltgetriebe, die er zuerst fuhr, musste er zum Schalten das Steuer loslassen. Er fuhr sicher, aber ich erinnere mich, dass mir als Mitfahrer immer etwas mulmig wurde, wenn er schaltete.

In der einsam am Waldrand gelegenen Baracke hatte der General natürlich auch an mögliche Einbrecher gedacht. Die Fenster waren sehr niedrig und stellten kein Hindernis für kriminelle Besucher dar. Vater hatte einen kurzen dicken Knüppel an seinem Bett und sagte mir, als wir uns einmal über die “militärische Lage“ der Baracke unterhielten, dass er hart zuschlagen würde, wenn ein Bursche es wagen sollte, einzusteigen.

Und als Held zeigte sich unser Vater später wieder einmal, als die Eltern in Leihgestern (Am Hasenpfad) wohnten. In einer Sommernacht schlief er allein in seinem Zimmer im ersten Stock. Die Balkontür stand offen, es war eine warme Nacht. Vater wird durch ein Geräusch geweckt und sieht von seinem Lager aus, wie sich ein Einbrecher, der über den Balkon in das Zimmer gekommen war, am Kleiderständer an der Jackentasche des schlafenden Generals zu schaffen macht und sie untersucht. Vater erkennt sie Situation sofort und brüllt ihn noch im Bett liegend an, worauf der Dieb sofort das Weite sucht. Die Reaktion unseres Vaters ist erstaunlich und bewundernswert, denn aus dem Schlaf direkt zum Angriff überzugehen, erfordert Mut, und in schlaftrunkenem Zustand ist man normalerweise moralisch nicht gerade stark.

Die Krankheit, die ihn dann im Jahre 1986 auf das Krankenbett warf, hat er tapfer ertragen. In dieser Zeit war auch unsere Mutter kränklich und pflegebedürftig. Unsere Eltern waren nun auf Hilfe angewiesen, die ihnen vor allem Helga treu und fürsorglich zukommen ließ. Mittlerweile lebten sie in einem kleinen Haus am Alten Friedhof in Gießen.

Der ältere Bruder meines Vaters, Onkel Günter, mein Patenonkel, war schon im Januar desselben Jahres verstorben, und Vater hat ihn noch bis zum Juli 1986 überlebt. Vaters langjähriger Freund, Horst Schubring, ebenfalls Hinterpommer, den er in den ersten schweren Gießener Jahren zufällig kennengelernt hatte – damals Gemeindepfarrer in Wieseck, dann Propst von Oberhessen – begleitete unseren Vater auf dem letzten Gang. Sein Grab, das einige Jahre später auch unsere Mutter und in jüngster Zeit unsere Schwester Renate aufnahm, liegt auf dem Neuen Friedhof in Gießen.

Ein tapferer Mann, dessen Leben im Pfarrhaus von Hinterpommern begonnen hatte, der in den Kadettencorps von Plön und Berlin seine Erziehung zum Offizier erhalten und zwei Kriege und große Belastungen durchlitten hatte und der nach allen Katastrophen noch viele friedliche und gute Jahre erleben durfte, war an sein Ende gekommen.

 

Dormagen (Gohr) im September 2016

  Dietrich Kegler