Sein letzter Besuch
Beitrag von Norbert Werner
Nach einer Begebenheit „Weihnachtszeit 1942“, gewidmet von Elsbeth Panknin an Paul Werner.
Gotha, im Jahre 1943
Sternenklar war der Abend, und pfeifend strich der Wind um die Ecken. Hart klang jeder Schritt, und wenn es nicht so bitter kalt gewesen wäre, so hätte man Lust verspürt, stundenlang spazieren zu gehen, den Blick nach oben, um die Millionen von Sternen zu bewundern. Man kann sich an ihnen einfach nicht satt sehen, so wie man immer und immer wieder ein schönes Bild betrachten muss.
Das Mädchen ging raschen Schrittes und trug unter dem Arm ein kleines Päckchen. Flüchtig war das weisse Papier um die weihnachtliche Hülle gelegt, und der Wind zerrte daran, als ob er damit spielen wollte. Nachher wird sie das Papier zerknüllen und rasch in die Manteltasche schieben, als sei es nie dagewesen. Dann wird nur die hübsche Packung zu sehen sein. Gewiss wird er sich sehr freuen, und überhaupt sprachlos wird er sein, wenn sie ihn so unerwartet am Theater erwartet …
Das Bim-Bim der Trambahn riss die Gedanken des Mädchens auseinander. Nur im Eiltempo erreichte sie noch die Strassenbahn.- Es war noch sehr früh. „Ich werde einige Stationen weiter fahren, gehe dann langsam zurück, damit ich nicht so lange warten muss.“ So dachte das Mädchen und betrachtete die Fahrgäste, nur um etwas zu tun. Sicher wollten einige zum Bahnhof. Wer fährt sonst um diese Zeit in die Stadt? Das junge Mädchen dort hat sicher Nachtwache, und der Herr dort mit den Blumen will noch mit grosser Verspätung einer Einladung Folge leisten. Alles schaut langweilig und trübe. Es ist doch seltsam, dass man in der Strassenbahn immer dieselben gleichgültigen Gesichter sieht. Nur die Soldaten draussen sind lustig. Sie stehen bei der Schaffnerin und werfen Scherzworte hin, und schlagfertig werden sie zurückgegeben.
„Hindenburgstrasse“. „Ach, da steige ich aus, bis zum Bahnhof ist es doch ein wenig weit.“
Draussen umfing sie starre Dunkelheit, und einen Moment musste sie ruhig stehen bleiben, um sich daran zu gewöhnen. Dann schien es ihr wunderbar hell, und mit leichten unruhigen Schritten ging sie ein Stück des Weges wieder zurück. Im Geiste malte sie sich die Überraschung aus, wenn er sie so unerwartet unten in der Theaterhalle sehen würde. Draussen würde er rasch ihren Arm nehmen mit der ihm eigentümlichen Gebärde, und mit sprudelnden Worten wollte sie ihm den Grund sagen, der sie dazu bewogen hat, ihn abzuholen, und nicht wie verabredet zu Hause seinen Abschiedsbesuch abzuwarten. Dabei würden sie mit Bummelschritten heimwärts gehen. Sie würden sich irgendwie unterhalten über das Theater oder sonstwas, es wäre auch ganz belanglos. Auf jeden Fall würde sie sich die vielen Sterne betrachten und an etwas ganz Schönes denken. Er müsste das eben auch tun. So wäre es schön, und sein letzter Urlaubstag mit ihr fände dann einen romantischen Abschluss, wo sie sowieso die ganze Woche keine Zeit gehabt hatte.
Ja, und dann wären sie auf einmal schon zu Hause gewesen. Sie würde fragen, ob er nicht noch auf einen Sprung mit hereinkommen wolle, ihren Eltern Lebewohl zu sagen. Bestimmt würde er dankend ablehnen, es sei schon sehr spät. Vielleicht hätten sie noch eine Weile vor der Tür gestanden, dann hätte sie ihm zum Abschied rasch mit wenigen erklärenden Worten das Päckchen in die Hand gedrückt, und lachend hätte sie ihm dann ihre Hand entzogen, wäre raschen Schrittes ins Haus geeilt.. So malte sich das Mädchen alles aus.
Die Vorhalle im Theater war nur schwach beleuchtet. Einige Leute standen wartend in den Nischen. Sie warten genauso wie ich, dachte das Mädchen und fühlte eine innere Befriedigung dabei, dass sie nicht alleine war. Die Zeit verging sehr langsam. Manchmal kamen neue Leute hinzu. Eine Frau lief mit immer gleichmässigen Schritten auf und ab. Es klang furchtbar monoton. Einige Jünglinge unterhielten sich auffällig, leise dabei lachend. Sicher waren es Tanzstundenjünglinge und warteten hier auf ihre Damen. Jetzt tauschten sie wahrscheinlich Erlebnisse aus und machten sich über diese oder jene lustig. Es ist doch immer das Gleiche. Schon lange ist der Uhrzeiger auf 21 Uhr gewesen. Da sollte das Stück beendet sein. Aber die Logenschliesser machen noch nicht die geringsten Andeutungen. Gähnend stehen sie vielmehr bei den Garderobenfrauen und horchen manchmal gespannt auf das ersehnte Schlusswort. Unten in der Halle geht die Frau noch immer auf und ab, auf und ab. Ach, das Warten macht furchtbar müde. Es wird übrigens gar nicht so einfach sein, nachher die Menschenmassen zu überblicken, wenn sie alle den Ausgängen zuströmen. Man müsste statt zwei Augen vier haben, um gleichzeitig alle Ausgänge überblicken zu können. Das Mädchen dachte darüber nach, wo es wohl am günstigste sei, sich hinzustellen. Entweder gleich oben bei den Garderoben oder unten in der Mitte zwischen den Ausgängen.
Während sie noch hin und her überlegte, wurden oben die Türen geöffnet. Lautes Beifallklatschen ertönte und erreichte auch die Wartenden unten in der Halle. In die starren Gesichter kam Leben. Die Jünglinge hörten auf zu schwatzen, und auch die Frau stand jetzt still. Das Mädchen lief nach oben zu den Garderoben. Nur einzelne Menschen kamen jetzt. Es waren die Ersten, die gleich beim ersten Herablassen des Vorhanges sich von ihren Plätzen erheben und hinausstürzen. Nun kommen schon mehr, man kann sie bald nicht mehr überblicken, es ist der grosse Schwung. Das Mädchen wird unruhig. So geht das nicht, dachte es, ich stelle mich doch besser unten bei den Ausgängen hin.
Lärmend drängen sich die Leute den Ausgängen zu. Auch viel Militär ist darunter. Ob er Uniform oder Zivil trägt, überlegte das Mädchen verzweifelt. Man kann aber auch schier gar nichts erkennen bei der mangelhaften Beleuchtung. Wäre man doch wenigstens etwas grösser, ach es ist schrecklich. Angestrengt springen die Augen von einem zum andern. Alles geht so furchtbar rasch. Nun kommen schon die Letzten, die Bummler, und noch immer nicht hatte sie ihn entdeckt.
Leise schliesst sie die Haustür auf und legt fast mechanisch ihren Mantel und Hut an der Flurgarderobe ab. Der Besuch war nicht gekommen. Na, ist ja auch jetzt gleichgültig. Einfach sagt sie zu der Mutter: „Ich habe ihn nicht getroffen, es waren der Menschen zu viele.“
Verlassen liegt das Weihnachtspäckchen in der Küche. Es vergehen Minuten, eine halbe Stunde, und niemand kommt. Die Standuhr schlägt die volle Stunde aus. Still bei sich denkt das Mädchen: „Er hat doch noch ein Mädel nach Hause begleitet, sonst müsste er schon längst hier sein. Wie konnte ich nur einen Augenblick seine Natur verkennen.“ Laut sagt sie zu der Mutter: „Er wird nicht mehr kommen. Ich werde zu Bett gehen.“ Sie erhob sich, um Gute Nacht zu wünschen. In dem Augenblick klingelt es. Also kam er doch noch.
Freundlich, als hätte sie ihn so nebenbei erwartet, empfing das Mädchen ihn an der Haustür. Er legte trotz seinem Widerstreben an der Garderobe Mantel und Mütze ab. Dann trank man mit den Eltern noch ein Gläschen Wein zusammen, unterhielt sich dabei zwanglos, fragte nach dem Schauspiel, ob es gefallen hätte und bedauerte, dass der Urlaub schon zu Ende sei. Dann verabschiedete man sich, wünschte ein frohes Weihnachtsfest da draussen im Bunker, alles Gute für das neue Jahr, hoffte dabei auf baldigen Frieden und wünschte zum Schluss noch eine gute Reise. Das Mädchen half ihm draussen in den Mantel, probierte lachend seine Mütze auf und drückte ihm zum Abschied das Päckchen in die Hand. Seine Überraschung und Freude waren wirklich echt. „Du schreibst mir aber auch“, waren seine letzten Worte, die schon im Dunkel der Nacht verhallten, und dann klangen auch seine Schritte immer ferner.
Und noch stand das Mädchen und versuchte, sich voll Verständnis in die Psyche des jungen Soldaten hineinzudenken.
Nachsatz
Mein Vater war ab 1940 beim Militär. Nach der Rekrutenzeit kam er 1941 zur Feldeinheit nach Frankreich an die Kanalküste und die Normandie. Im Juni 1944 geriet er bei der Invasion in Gefangenschaft. Von Frankreich ging es über England nach Boston/USA. Die Gefangenschaft verbrachte er vorwiegend im „Camp Perry/Ohio“. Die Rückführung nach Frankreich/Le Havre erfolgte 1946. In französischer Gefangenschaft war er bis Dez. 1947. 1948 heiratet er Elsbeth Panknin.
Sein Kriegstagebuch endet mit den Worten:
„Jetzt gilt es, meine ganze Kraft für den Aufbau des zerstörten Vaterlandes einzusetzen!“
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