Über menschliche Werte im Geiste der Ehrfurcht vor dem Leben – 8. Teil

A011

Gewaltlosigkeit

Von Lew Tolstoi stammt das denkwürdige Wort: „Mit Gewaltmaßnahmen kann man ein Volk unterdrücken, aber nicht regieren.“ Zu dem wichtigen Grundwert der Menschlichkeit, der Gewaltlosigkeit, sollen hauptsächlich Denker des Friedens zu Wort kommen. Auch hier sei zunächst auf die Bergpredigt Jesu verwiesen, in der die Sanftmut gewürdigt wird. Von Mahatma Gandhi stammen die Worte: „Ich lehne Gewalt ab, weil das Gute, was sie zu bewirken scheint, nicht lange anhält. Das Schlechte dagegen, das sie bewirkt, ist von Dauer.” In seiner Satyagraha heißt es: „Die Macht, die aus der Liebe kommt und in Liebe angewendet wird.“ „In dieser Zeit, wo Gewalttätigkeit, in Lüge verkleidet, so unheimlich wie noch nie auf dem Throne der Welt sitzt, bleibe ich dennoch überzeugt, dass Wahrheit,

Liebe, Friedfertigkeit, Sanftmut und Gütigkeit die Gewalt sind, die über aller Gewalt ist. Ihnen wird die Welt gehören, wenn nur genug Menschen die Gedanken der Wahrheit, der Friedfertigkeit und der Sanftmut rein und stark und stetig genug denken und leben.” Denn „alle gewöhnliche Gewalt beschränkt sich selber. Sie erzeugt Gegengewalt, die früher oder später ebenbürtig oder überlegen wird. Die Gütigkeit aber wirkt einfach und stetig. Sie erzeugt keine Spannungen, die sie beeinträchtigen. Bestehende Spannungen entspannt sie, Misstrauen und Missverständnisse bringt sie zu Verflüchtigung, sie verstärkt sich selber, indem sie Gütigkeit hervorruft. Darum ist sie die zweckmäßigste und intensivste Kraft. Was ein Mensch an Gütigkeit in die Welt hinaus gibt, arbeitet an den Herzen und an dem Denken der Menschen … Wo aber Zwang und Gewalt ist, da ist Gefahr für die Religion, doppelt Gefahr, wenn die Religion den Namen und die Berechtigung zur Gewalt hergeben muss oder zuletzt gar selbst auf Gewalt ausgeht.” Diese denkwürdigen und erschreckend aktuellen Sätze sprach Albert Schweitzer schon vor fast einem Jahrhundert aus. Während Gewalt auf Unterwerfung zielt, bewirkt Gewaltlosigkeit Versöhnung.

Martin Luther King fasste in seinen Weihnachtspredigten den ethischen Grundwert der Gewaltlosigkeit in die folgenden Worte: „Ich habe zu viel Hass gesehen, als dass ich selber hassen möchte, und ich habe Hass in den Gesichtern zu vieler Sheriffs, zu vieler weißer Stadträte und zu vieler Ku-Klux-Klan-Leute im Süden gesehen, als dass ich selbst hassen möchte und jedesmal, wenn ich ihn sehe, sage ich mir, Hass ist eine zu große Last, als dass man sie tragen möchte.” In der Mason Temple Church von Memphis rief er aus: „Es gibt in dieser Welt keine Wahl mehr zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit. Entweder Gewaltlosigkeit oder Nicht-existenz.”

Über menschliche Werte im Geiste der Ehrfurcht vor dem Leben – 7. Teil

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Fürsorge

In der vatikanischen Spruchsammlung stehen die Worte von Epikur: „Wir wollen am Unglück unserer Freunde teilnehmen nicht durch Klagen, sondern durch Fürsorge.”

In jeder Gesellschaft gibt es Menschen, die Hilfe brauchen. Es können gesunde oder kranke Menschen, Kinder oder Alte sein. Sie alle haben Anspruch auf Hilfe, ganz gleich von welcher Seite sie gebracht wird. Sind es die Eltern, die ihr krankes oder behindertes Kind betreuen, oder sind es Kinder, die ihre Eltern oder Großeltern pflegen.

Neben den nächsten Angehörigen ist natürlich auch die Gesellschaft in der Pflicht. Pflegeein­richtungen, Seniorenheime, diakonische Einrichtungen bemühen sich um Hilfe für Bedürftige. Dabei ist es wichtig, dass auch kranke und pflegebedürftige Menschen einen Anspruch auf Selbstbestimmung haben. „Ohne ihre Mitarbeit dauern Heilungsprozesse länger”, schreibt Cornelia Coenen-Marx (in Möllering und Behlau). Deshalb sollte ein Kranker nicht nur behandelt, sondern auch gefragt werden, was er möchte und braucht. „Gute Pflege heißt, sich auf den anderen einzulassen, ja, sich ein Stück weit von ihm führen zu lassen. Es kommt darauf an, dass wir genau hinsehen und hinhören und erst dann antworten und Verantwortung übernehmen … Dass wir in den Dienst des Anderen treten und er unser ,Lehrmeister’ wird.“ Dies geht am besten „auf Augenhöhe“: Die Mutter hockt sich vor dem Kinde hin, der Pfleger rückt den Stuhl an den Sessel des alten Menschen, der Arzt setzt sich für einen Moment auf die Bettkante des Kranken. „Diese Nähe ist unersetzlich“, mahnt Coenen-Marx, „wenn Hilfe ankommen soll.“ Deshalb kann man Fürsorge auch nicht ganz an Institutionen delegieren.

Doch Fürsorge erfordert Kraft und kann sie auch aufzehren. „Wer sich auf die Sorgen anderer einlässt, wer Kranke pflegt und Kinder erzieht, muss auch für sich selber sorgen können. Das gilt besonders für Frauen, die auf ihre Kräfte achten müssen, um nicht auszubrennen … Wer mit sich selbst schlecht umgeht, kann dem Anderen nicht gut sein.“ Dies erfordert die Ehrfurcht vor dem Leben des Mitmenschen wie vor dem eigenen Leben.

Über menschliche Werte im Geist der Ehrfurcht vor dem Leben – 3. Teil

Albert_Schweitzer_in_Lambarene_1964

Albert Schweitzer in Lambarene 1964 – Photo Credit: Wikipedia

Barmherzigkeit

In den Seligpreisungen seiner Bergpredigt, die Albert Schweitzer als die „Rechtsurkunde des freien Christentums” bezeichnet hat, nennt Jesu auch die Barmherzigkeit. Sie bedeutet Erbarmen haben mit körperlich oder seelisch leidenden Menschen, aber auch mit der leidenden Kreatur im Geist der Ehrfurcht vor dem Leben. Barmherzigkeit gegenüber allen Geschöpfen, wie Schweitzer es einschließt, bedeutet zum Beispiel Verzicht auf eine Tierhaltung, die Leiden verursacht. Beim Erbarmen spielt die Schuld des leidenden Wesens keine Rolle. So hat man nicht nur mit redlichen Menschen Erbarmen, sondern ebenso mit solchen, die nach dem Gesetz oder der geltenden Moral schuldig geworden sind. Ebenso hat der ethische Mensch Erbarmen auch mit Ausländern, die illegal eingereist, hier ausgenutzt und dann in Abschiebehaft gelangt sind. Er hat Erbarmen nicht nur mit Opfern der Gewalt, sondern auch mit Tätern, die zu Reue und Einsicht gekommen sind.

Albert Schweitzer schreibt in seiner Kulturphilosophie: „Wo nur meine Person in Frage steht, darf ich immer geduldig sein, immer verzeihen, immer Nachsicht üben, immer barmherzig sein. Jeder von uns kommt aber in die Lage, dass er nicht nur für sich, sondern auch für eine Sache verantwortlich ist und dann zu Entscheidungen genötigt wird, die gegen die persönliche Sittlichkeit gehen.” Auch in diesem Falle sollte man Barmherzigkeit walten lassen. Denn Barmherzigkeit zu üben, bedeutet auch ethische Freiheit von der Welt, wodurch der Barmherzige größer und stärker wird.

Mit dem Hinweis auf seinen Entschluss, nach Afrika zu gehen, beruft sich Schweitzer auf die Barmherzigkeit, die Jesus und die Religion befehlen. „Zugleich aber wende ich mich an das elementare Denken und Vorstellen. Nicht als ein,gutes Werk’, sondern als unabweisliche Pflicht soll um das, was unter den farbigen zu tun ist, erscheinen …In Ehrfurcht vor dem Leben und in tiefem Empfinden für Weh und Angst haben wir in suchender Barmherzigkeit zu dienen und Erlösung zu bringen. Wo wir aus Notwendigkeit so oft Leid und Tod über Geschöpfe bringen, müssen wir da, wo wir als Freie handeln dürfen, umso mehr darauf aus sein, sie zu schonen und ihnen Helfer zu sein.”

Über menschliche Werte im Geist der Ehrfurcht vor dem Leben – 2. Teil

A012Anteilnahme

Sprichwörter sagen: „Geteiltes Leid ist halbes Leid, aber geteilte Freude ist doppelte Freude.” Am Schmerz und an der Freude von Mitmenschen teilzuhaben, ist ein wichtiger Ausdruck von Menschlichkeit. Denn Anteilnahme hilft, seelische und körperliche Leiden zu ertragen und zu überstehen; aber auch erfahrenes Glück hilft es, tiefer zu empfinden. Doch Anteilnahme muss von erzen kommen und darf keine Floskel nach dem Muster: „Schönen Tag noch!” sein. Anteilnahme bedeutet, dass man Leid und Freude des Mitmenschen mitempfindet und ebenso betroffen ist wie er selbst. Anteilnahme zu zeigen erfordert aber auch ein Gespür, wie weit sie gehen darf. Oft fehlen die richtigen Worte, dann genügt ein Händedruck, eine Umarmung oder auch nur ein Blick. Hilfe kann oft auch durch Taten zum Ausdruck kommen und Trost spenden. Die Anteilnahme muss natürlich ehrlich gemeint sein, sonst sollte man auf Zuspruch lieber verzichten.

Nun gibt es auch Berufe, in denen man ständig mit hilfs­bedürftigen, unglücklichen, leidenden Menschen zu tun hat. So kann kein Arzt, keine Krankenschwester, kein Pfleger oder Geistlicher mit seinen Patienten, Anvertrauten in vollem Umfang mitleiden. Sie brauchen neben der Nähe auch die Distanz.

Anteilnahme ist ebenso eine gesellschaftliche wie politische Notwendigkeit. „Natürlich kann ein Politiker nicht jedes Schicksal eines Arbeitslosen zu seiner Sache machen”, schreibt Jutta Schreur (in Möllering und Behlau). „Aber er – oder sie – muss ein Gespür dafür behalten, dass hinter jeder Statistik solche Einzelschicksale stehen …” Ein Vorbild aus der Politik auch in dieser Hinsicht war für mich die Sozialministerin des Landes Brandenburg, Regine Hildebrandt, die ihre Anteilnahme stets mutig und deutlich zum Ausdruck gebracht hat. Sie hat dafür nicht immer nur Beifall geerntet. Für mich ist sie ein Beispiel dafür, dass man ethische Werte auch in der Politik verwirklichen kann – wenn man Charakter hat.

Wenn wir von Anteilnahme sprechen, muss bewusst bleiben, dass es um Menschen geht, nicht um eine „höheres Ideal oder Ziel”. Es geht um die Ehrfurcht vor dem Leben und dem Schicksal eines Menschen neben mir. „Wahrhaft ethisch ist der Mensch nur”, schreibt Albert Schweitzer, „wenn er der Nötigung gehorcht, allem Leben, dem er beistehen kann, zu helfen, und sich scheut, irgendetwas Lebendigem Schaden zuzufügen.”

Über menschliche Werte im Geist der Ehrfurcht vor dem Leben – 1. Teil

Diese Serie ist, wie der Gesamttitel schon andeutet, den menschlichen Werten im Geist der Ehrfurcht vor dem Leben gewidmet. Sie wurde liebevoll von meinem Vetter Dr. Hartmut Kegler zusammengestellt, die er 2015 als kleines Heftband in Deutschland veröffentlichte. Ich drücke hiermit meine Dankbarkeit aus, diese kostbaren Gedanken in meinem Blog aufnehmen zu dürfen. Möge der Leser Inspiration und viel Freude beim Lesen dieser Schrift haben. For my non-German readers I recommend using Google Translate.

Vorbemerkung

Es wird oft von menschlichen Werten gesprochen, denen wir verpflichtet seien. Unsere Gesellschaft versteht sich auch mitunter als eine „Wertegemeinschaft”. Doch um welche Werte es dabei geht, wird selten genau erklärt. Es bleibt einem auch oft verborgen, wenn man nach dem geht, was in der Öffentlichkeit be- und geachtet wird: Politiker, Schauspieler, Sportsleute, der gehobene Adel lassen nicht immer die Werte erkennen, die gemeint sein könnten. Doch wenn man auf den Alltag des schlichten Mitbürgers achtet, begegnet einem manches, was ehrenwert ist. In Krankenhäusern und Altersheimen, in Kinderdörfern und Familienwerken, in Frauenhäusern und Hospizen, in Obdachlosenheimen und „Tafeln”, aber ebenso in vielen Nichtregierungsorganisationen wie „Ärzte ohne Grenzen”, „Brot für die Welt” oder Caritas, in Natur-, Umwelt- und Tierschutzvereinigungen wirken Menschen, die ethische Ziele aufopferungsvoll verfolgen und verwirklichen helfen. Sie finden in Illustrierten und Fernsehsendungen zu selten öffentliche Würdigung. Deshalb habe ich einmal versucht, einiges über menschliche Werte zusammenzutragen und habe dabei auch nicht nur weise Persönlichkeiten zitiert, sondern vor allem die Gedanken und das Wirken eines „Genies der Menschlichkeit” anklingen lassen, der mit seiner Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben menschliche Werte nicht nur benannt, sondern auch vorgelebt hat.

Möge die Schrift Interesse und Zuspruch finden.

Hartmut Kegler

Baroness Anna von Waldenfels (née Klopp) – Part XX (Final Episode)

Aunt Anna’s Neglected Gravesite

At the end of the 1950s, after giving up the house in Söcking, Bavaria, Anna von Waldenfels moved to Freiburg/Breisgau close to her sister Meta Mülbert, who lived at Maria-Theresiastraße 4. Her husband Vincenz had passed away in 1958. Anna at first rented an apartment at number 7 across the street.

In the summer of 1959, while on a bike tour through Germany with my friend Rainer Schüler, I visited both aunts, who add moved together at No. 4. I remember Aunt Anna quite well, a feisty old lady filled with an unbroken spirit and a fervour, which revealed strong nationalistic overtones. She spoke to us young men of sacrifices to be rendered in blood and honour to put Germany back on her feet again. Obviously, her heart and mind were still dreaming of an era that no longer existed. These bizarre ideas of a past imperialistic Nazi-Germany, having brought nothing but extreme suffering and total destruction to many nations under its control, were completely foreign to us growing up in democratic West Germany.

At about the same year she met for the last time her granddaughter, the then 23-year old Carola von Waldenfels (born in 1932 at Lagowitz). She had most likely made a farewell visit and proceeded from there to travel as a photographer to California, USA. The two widows maintained contact with Ernst Klopp (my father), who had remarried and lived with his new wife Erna Klopp (née Krämer) in Michelbach near Schotten.

Once a resolute, energetic lady, always leaving the impression of a governess, now suffered from bladder incontinence, which considerably restricted her mobility and physical activities. At 82, she died of cancer on 3 November 1969 in Freiburg/Breisgau. The two families Georg von Waldenfels from Haren/Ems and Meta Mülbert provided on 7 November 1967 a final resting place for Anna on her beloved husband’s side in the Starnberg forest cemetery. Her son had arranged the transfer of his mother’s remains to Söcking, but he did not deem it necessary to take care of the completion by adding a cross for his mother. Fate’s irony is that her gravesite remained nameless just as the one of her eldest brother Friedrich Klopp (1875 – 1946)  in Gardelegen in the former German Democratic Republic. “Sic transit gloria mundi.”